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Lorenz Kauffer in „A Cerebral’s Rhapsody“ von Huihui Cheng. Foto: Britt Schilling/Theater Freiburg
Lorenz Kauffer in „A Cerebral’s Rhapsody“ von Huihui Cheng. Foto: Britt Schilling/Theater Freiburg
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Wenn die Flucht zur tödlichen Falle wird

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„Escape“: Zwei Uraufführungen am Theater Freiburg in Zusammenarbeit mit dem SWR Experimentalstudio
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Die einen sind aus ihrer Heimat Vietnam geflohen, weil sie sich in Großbritannien ein besseres Leben erhofften und dafür den Schleppern rund 15.000 Euro pro Person bezahlten – am Ende sind alle 39 Menschen tot. Erstickt in dem Container, in dem sie ins ersehnte Land geschmuggelt wurden. Die anderen werden nach und nach durch Künstliche Intelligenz beobachtet und gesteuert. Die versprochene goldene Zukunft wird zur Unfreiheit.

„Escape“ – Flucht – heißt der unbequeme Abend im Kleinen Haus des Freiburger Theaters, der gleich zwei Musiktheater-Uraufführungen präsentierte. Was die beiden Werke miteinander verbindet, ist neben dem gleichen künstlerischen Team und einem ähnlichen Setting auch die Relevanz der Themen und die Eindringlichkeit der Präsentation. Großer Applaus für die jeweils rund 45-minütigen Produktionen, die ein Ensemble des Philharmonischen Orchesters Freiburg unter der Leitung von Detlef Heusinger mit dem SWR Experimentalstudio (Klangregie: Maurice Oeser und Thomas Hummel) und Gesangssolisten zusammenbrachten.

Die Fläche der drei Räume, die auf der Bühne durch einen Rahmen am Boden markiert sind, entspricht genau den Maßen eines LKW-Containers. In der Mitte ist das Instrumentalensemble platziert, im rechten der schmalen Rechtecke liegen Kleider, im linken stehen eng gedrängt gesichtslose Menschen (Bühnenbild und Kostüme: Chris­tian Wiehle, Regie: Thomas Fiedler). Ying Wangs Musiktheater „Lorry 39“ beginnt mit Multiphonics in den Holzbläsern. Gedämpfte Trompetenklänge treffen auf Glissandi in den Streichern. Akzente wirken wie Störfeuer. Die Musik bietet keinen Halt, sondern sorgt für permanente Verunsicherung und setzt von Anfang an die tragische Geschichte unter Spannung. Könntest Du bitte das Licht anschalten? Wie lange dauert es? Wo sind wir? – lauten die ersten Sätze im englischen Libretto, die von der Mezzosopranistin Inga Schäfer artikuliert werden.

Auf der Leinwand oberhalb der Bühne erscheint das Innere eines Containers (Video: Stefan Bischoff, Kevin Graber). Am 23. Oktober 2019 fand man in solch einem stählernen Quader in Essex im Südosten Englands die Leichen von 39 Migrantinnen und Migranten aus Vietnam. Sie sind bei Temperaturen von rund 40 Grad qualvoll erstickt – im Gerichtsprozess wurden ihre letzten Handynachrichten vorgespielt. Andreas Karl hat einige davon in sein Libretto eingearbeitet. Inga Schäfer spricht, deklamiert und singt diese kurzen Sätze in kantablen Linien. Dazwischen hört man immer wieder Atemgeräusche, Herzschlag und elektronische Beats, zu denen sich die Statisten des Theaters beugen und krümmen. In den Videos wird dieser Todeskampf noch sichtbarer. Hier nehmen einige ihre Maske ab und zeigen ihre Angst, ihren Schmerz, ihren Schweiß. Die Intensität im Orchester nimmt zu, Schlagzeug und E-Gitarre verdichten und schärfen den KIang. „I am really, really sorry, my trip to a foreign land has failed“, lautet die letzte Whats-App-Nachricht an die Eltern in Vietnam. Am Ende des instrumentalen Epilogs wird das Atmen zum Röcheln. Die liegenden Klänge in den Streichern und Flöten künden vom Tod der Insassen. Die folgende Stille und Dunkelheit machen beklommen.

Utopie oder Dystopie?

„A Cerebral’s Rhapsody“ von Huihui Cheng (Libretto: Pat To Yan) fußt auf keiner realen Geschichte, aber die darin gezeigte Utopie – oder Dystopie? – ist in Ländern wie China mit seinem digitalen Überwachungsstaat schon Realität. Am Anfang glaubt die Gesellschaft noch den Verheißungen des smarten Programmierers (mit geschmeidigem Tenor: Hyunhan Hwang), dass mit dem Sammeln von Daten alles besser, bequemer und individueller werden würde. Nur ein Mensch (von kantabel zu Beginn bis hysterisch am Ende: der Bariton Lorenz Kauffer) ist von Beginn an skeptisch. Er misstraut der neuen Welt, wenn er von einem beweglichen Scheinwerfer gescannt wird, um Teile seiner Persönlichkeit durchleuchten zu lassen. Chengs Musik klingt wie pulverisiert. Kaum eine instrumentale Linie ist zu hören, mehr Geräusch und Geste als Klang. Faszinierend wird es, wenn Inga Schäfer als Künstliche Intelligenz ihre zu Beginn noch roboterhaft klingende Stimme nach und nach mit Emotionen anreichert. Liebe, Leidenschaft, Begierde – all das wird auf der Checkliste abgehakt. Das SWR Experimentalstudio packt hier seinen Zauberkasten aus und bearbeitet mit Live-Elektronik die Gesangsstimme nach allen Regeln der digitalen Kunst, setzt Hall hinzu, spaltet Frequenzen ab und streut glitzernde Partikel über die Gesangslinie.  Die Künstliche Intelligenz wird immer menschlicher, was den Programmierer freut. Nur der normale Mensch möchte fliehen aus dieser perfektionierten Welt, deren Abgründe erst nach und nach spürbar werden.

  • Weitere Vorstellungen: 5. und 6. November 2022

 

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