Einst galt Giovanni Pierluigi da Palestrina auf dem Tridentiner Konzil als „Retter der Kirchenmusik“. In Zeiten von Corona, in denen landauf, landab jegliche Art von Konzertveranstaltung untersagt ist, retten nun seine mehrstimmigen Messen die Hör-Erfahrung von live aufgeführter Musik. Unter dem Motto „A Global Prayer for the People“ und mit bischöflichem Segen wurde im Augsburger Dom vom 20. auf den 21. November unter den gängigen Hygiene-Auflagen für Gottesdienste eine 24-stündige Andacht mit Musik zelebriert und per Livestream in alle Welt übertragen. Ein klingender Hoffnungsschimmer, und für den Freund wahrer Musik eine ganz andere Form der „Novemberhilfe“.
Schon beim Einchecken im Hotel sind aus einem angrenzenden Raum die Augsburger Domsingknaben zu hören. Man singt sich warm an diesem kalten Tag für die ersten Stücke des ungewöhnlichen Palestrina-Marathons, der nach den Fürbitten von insgesamt acht professionellen Ensembles übernommen wird: den Vokalisten des Konzerthauses Blaibach, dem Chor der KlangVerwaltung, SingerPur, AUXantiqua, Ælbgut, Vodeon, Quintessenz und InVocare, ergänzt durch instrumentale Interludien mit Sigiswald Kuijken, Marleen Thies, Olga Watts und dem Domkapellmeister Stefan Steinemann. Was aussieht wie von langer Hand geplant, geht auf eine spontane Idee des Baritons Thomas E. Bauer zurück, die vor nicht einmal 14 Tagen geboren wurde. Dank eines funktionierenden Netzwerks und allgemein leergeräumter Terminkalender waren die Sänger rasch gefunden, das Programm bald zusammengestellt und eine Gruppe Techniker engagiert, die via Idagio’s „Global Concert Hall“ die musikalischen Gebetsstunden gratis mit Ton und Bild in alle Kontinente aussandte. Eine logistische Meisterleistung, denn die Mitwirkenden wechselten sich beim Singen und Ruhen auch die Nacht hindurch ab.
Klanglich entwickelten sich interessante Perspektiven: Das Podium war in beträchtlicher Entfernung zum Mittelschiff am Ende des Ostchores aufgebaut, woraus unterschiedliche Klangwirkungen resultierten; im Kirchenraum mitunter verschwollen, in der Krypta unter dem Westchor erstaunlich klar, im Hotelzimmer am Laptop durch die Mikrophone sehr direkt. Je länger der Freitagabend dauerte, umso mehr dünnte sich die vor Ort anwesende Andachtsgemeinde aus. – Nachdem sich um 00:30 Uhr im Saal am Hotel erneut die Stimmen warmsangen, nahm auch ich nochmals Schal und Mantel und stapfte durch leere Straßen in den Dom, wo nur noch wenige (außer der allgegenwärtig ordnenden Security) ausharrten. Auch für die beteiligten Vokalisten wurde es zu dieser Stunde hörbar wie sichtbar zunehmend unangenehm.
Obwohl in der überregionalen Presse wie auch über die Monitore im örtlichen ÖPNV berichtet wurde, blieb der Kreis des Auditoriums im Rahmen – bei nur 90 vorgesehenen Sitzplätzen musste niemand draußen warten. Unklar ist, wie groß der Zuspruch an den Bildschirmen weltweit war, jedenfalls spielten angesichts der durchgehenden Andacht die Zeitzonen keine Rolle. Der Vorteil einer solch medialen Hybrid-Veranstaltung zeigte sich mir morgens um 9 Uhr, als sich zu meiner Überraschung die Gemeinde bei schönstem Sonnenschein für eine Firmung im Dom versammelt hatte. Im Live-Stream lief derweil eine vorproduzierte Strecke mit noch frischen Stimmen. Dass mit Rücksicht auf die amtlichen Vorgaben die als Höhepunkt gedachte 18-stimmige „Missa Tu es Petrus“ durch eine Wiederholung der „Missa Papae Marcelli“ ersetzt wurde – geschenkt. Auch so wurde deutlich, dass Palestrina mit seinen Kompositionen eine Art umfängliche Norm gesetzt hatte, die kaum Abweichungen zuließ, die aber im Augsburger Dom durch ganz unterschiedliche Klangideale und Stimmkonstellationen der Ensembles nicht an Reiz verlor. Seine Musik bleibt als „Prayer for the People“ universell.