„Salome“ ohne Tanz, mit ganz anderer Musik! Klingt aufregend. Umso mehr, wenn 90 Minuten vor der Premiere eine Sondermeldung des Gorki-Theaters die Produktion als Uraufführung ausweist. „Stripping and Teasing“ („Strippen und Foppen“) lautet die Parole. Es geht weder um Oscar Wilde noch um eine poetisch dargestellte Endzeit, sondern um den Aufschrei nach Freiheit der Geschlechter in menschlicher Un-Gemeinschaft.
Letztlich bleibt die Adaption von Ersan Mondtag, Benny Claessens und Thomaspeter Goergen eine flache Angelegenheit, die das offenherzige Publikum mit verbindenden Zwischentexten am kreuzbraven kulturpädagogischen Gängelband hält. Das allerdings schön bunt.
Von den beiden Protagonisten der Produktion versprach man sich eine aufregende Auseinandersetzung: Als „poetisches Nilpferd“ (Süddeutsche Zeitung) würde der belgische Performer und Sänger Benny Claessens ohne weiteres in den Besetzungsolymp dieses Bravourparts für Schauspiel- und Operndiven passen. Denn Salome, „Tochter der Herodias und Prinzessin von Judäa“, schillert nicht erst seit Ken Russells fast heterophobem Film „Salomes Last Dance“ von 1988 zwischen Tragödie, Trash und Travestie. Dem von führenden Schauspielhäusern umworbenen und sich für dieses Sujet durch seine Affinität zu Szene, Musik und Performance empfehlenden Ersan Mondtag geht es nicht um Dynamik, sondern Einfrieren. Deshalb thront gerade dort, wo in der Mitte des semantischen Corpus bei Wilde und allen anderen nach-schöpfenden Künstler*innen Salomes Tanz steht, die riesige und von den Gewerken des Gorki-Theaters imponierend gestaltete Statue des nackten Hauptdarstellers: In der Pose eines realistischen Aktes mit langen Rapunzel-Zöpfen. Von den Tafeln an den Proszenium-Seiten wollen sich mächtig aufbäumende Wogen auf die Märchen-Winzlinge vor diesem Monument der Diversität stürzen wie das tote Meer auf die dekadenten Ägypter. Hipster hampeln herum.
Bewegend wird es in Thomaspeter Goergens mit der Axt abholzenden Überschreibung, wenn Benny Claessens endlich zu dem seinem eigenen Gesicht gleichenden abgeschlagenen Haupt spricht. Das Begehren mündet, ganz anders als in den Bezugsquellen, in Selbstreflexion und Erschöpfung. Der skandalisierende Exzess und der unstillbare Liebesdurst, wenn Salome im Urtext das Haupt küsst, bleiben aus. Auf Tiefgründigkeit musste man über weite Strecken verzichten, weil man die Oscar Wildes Schauspiel durchziehenden Metaphern-Linien zu sättigenden Textportionen zusammenfasste: Astronautennahrung statt Gourmet-Menü.
Konsequent ist, wenn der Prophet Johannes (ohne Attribut „der Täufer“) nicht zum Strafgericht, sondern gleich zum restlosen Untergang der Menschheit ruft. Mehmet Ateşçi, Karim Daoud, Jonas Grundner-Culemann, Anna Mattes und Aram Tafreshian hüpfen unter schwarzen Kapuzenmänteln als entpersönlichte Bleichgesichter einher. Eine feine Leistung der Theaterillusion sind die von Josa Marx detailverliebt auf deren fleischfarbene Trikots applizierten Schwengel: Salome und Johannes (kein Prophet!) als Schneewittchen mit fünf Zwergen. Dabei fühlt sich dieses Salome-Schneewittchen zu Beginn auch in einer Pagen-Montur pudelwohl. Es zeugt von Mut, wenn das fast systematische Cross-Dressing über sich hinausweisen will, deshalb Herodes und Herodias beide im Feen-Ornat auftreten: Dark Lady und Dragqueen. Die aus Wildes Text belassenen Fragmente einer Sprache der Liebe und der Gewalt werden zu Informationshülsen mit Erklärungsbedarf. Dieser wird prompt befriedet, wenn Orit Nahmias als Juden (Plural!) und Hofnarr von ihr selbst getextete Informationsstützen liefert, natürlich mit Appellfunktion.
Immer wieder liegt Jazzig-Souliges unter den Dialogen. Musikalische Differenzierung war nicht beabsichtigt, Verdichtung und Konzentration auch nicht. Gleiches gilt für die Live-Songs, mit denen Max Andrzejewski und Gerrit Netzlaff die Ballungsgebiete von Ersan Mondtags theatralen Mitteln garnieren. Diese Musik will offenbar vergessen werden, selbst wenn der Anspruch auf eine differenzierte Funktionalisierung spürbar ist. Dafür klingt es globalisierend und aufregend, wenn Mithu M. Sanyal in ihrem Aufsatz die Uraufführung von Strauss` „Salome“ kurzerhand vom verifizierbaren Stichtag aus dem nur wenig spektakulären Dresden ins umso mehr groovende New York 1907 versetzt. Das verringert das Vertrauen in die reichlich zugeführten Kommentar-Funktionen aber etwas.
Meisterstück und Zentrum dieser Produktion ist die Kolossalstatue von Benny Claessens als Salome. „Lost“ schreit ein heller Balken über dem 100-minütigen Gender-Mysterium. Dazu verhält sich die Musik lau und genau deshalb kongruent mit dieser an den besten Stellen munter unterhaltsamen Adaption, die dann lieber doch nicht in die Reihe der aufrüttelnden und hellwachen Inszenierungen des Gorki-Theaters will. Am meisten bedauern macht allerdings die Selbstbeschneidung dieser Überschreibung. Mit Bruchstücken und deren lückenhaftem Glossar ist man doch weder bei Oscar Wildes „Salome“ noch bei „Schneewittchen“ so richtig beglückt.