Vor dreihundert Jahren und einem Monat wurde Händels Oper uraufgeführt – vom verwöhnten Londoner Publikum bejubelt, obwohl auch andere der über 25 Vertonungen des Cäsaren-Lebens davor und danach gespielt wurden. Jetzt brandete der Jubel im „Opernhaus des Jahres 2023“ auf.
Wenn Sex Macht umgarnt – Händels „Giulio Cesare“ an der Oper Frankfurt
Keine Pyramiden, Kamele oder sonstige Anleihen an die Bilder der „Sandalenfilme“. In der Stadt des „Museumsufers“ am Main wurden die Blicke vor aller Musik in ein Antiken-Museum geführt. In der hellgrauen Raum-Passage standen sechs unterschiedlich ausgeleuchtete Cäsaren-Köpfe auf Säulchen und aus dem nachtschwarzen leeren Raum dahinter tönte zunehmend lauter „Cesare“ – und dann trat er nach vorn ins Licht, sein historischer Einmarsch ins zerstrittenen Ägypten des Jahres 48 v.u.Z. wurde zu realen Schritten „vorwärts-weiter“, dem prägenden Stil einer singulär gelungenen Inszenierung.
Regisseurin Nadja Loschky, Bühnenbildner Etienne Pluss und Kostümbildnerin Irin Spreckelmeyer hatten sich perfekt „zusammengefunden“. Zunächst wie eine Sinnestäuschung wirkend, dann fast unmerklich bewegtes „Vehikel“ damaliger Zeitläufte und jetzigen Handlungsablaufs war die Verschiebung einer endlos wirkenden Raum-Flucht in Super-Zeitlupe von rechts nach links, wie ein Gang durch einen Palazzo – von Etienne Pluss und einer stupend flüssig und vollkommen lautlos arbeitenden Bühnentechnik perfekt vorüberziehend gebaut, links verschwindend, rasant „hintenherum“ transportiert und rechts wechselhaft „neu“ auftauchend. Davor lief für schnellere Aufritte ein gelegentlich ergänzendes oder kontrastierendes Transportband. In dieser scheinbar der Realität enthobenen musealen Wirklichkeit traten dann alle Figuren in einer fantasievollen, fantastisch gelungen Stil-Mischung der Kostüme auf: von Cäsars römischem ledernen Soldatenrock über Sestos schülerhaftem Anzug zur edlen Robe Cornelias, den queeren Drag-Outfits des Wüstlings Tolomeo, den fast barock wirkenden weißen Roben Kleopatras bis hin zu klösterlich wirkenden Bediensteten, antiken Männerkostümen und schwarz vermummten Terroristen. Dieses hochintelligente Konglomerat von Figuren zeitloser Machtkämpfe zeichnete und führte Regisseurin Loschky exzellent differenziert; die nicht gestrichenen Da-capos der Arien waren zu emotionalen Charakterbildern gestaltet; „Gesangsnummern“ oder vokaler Prunk vollkommen vermieden; menschliche Extremsituationen entluden sich in dramatischer Aktion und mussten Gesang werden. Alle Klage gelang Dirigent Simone Di Felice gut, aber der Kontrast zu den fulminanten Ausbrüchen blieb zu wenig feurig-scharf-kantig.
Beispielhaft auch eine der wenigen Hinzuerfindungen: nachdem in einem Horrorbild der enthauptete, blutüberströmte Leichnam des ermordeten Pompeius wie in einem Museumsschaukasten präsentiert worden war, trat dieser kahlköpfige Tote mehrfach als Schema aus dem schwarzen Hintergrund und ging, „unsichtbar“ still den Sohn Sextus zur Rache drängend, durch die ja weiterhin geisterhaft langsam wandernden Räume: Heiner Müllers „Die Toten sind nicht tot“ (ein stumm expressiver Edelkomparse). Um ihn durchweg verschieden geformte Nebenfiguren mit erstklassigen Stimmen wie Iurii Iushkevichs Nireno-Counter, Jarrett Porters agilem Curio aus dem hauseigenen Opernstudio und dem wuchtigen Achillas-Bariton von Božidar Smiljanić. Nils Wanderers Counter passte ideal zu den neurasthenischen Perversionen Tolomeos in dementsprechenden Kostümschrägheiten. Der gereifte Lawrence Zazzo war eine perfekte Verkörperung des ja damals real 52-jährigen Cäsar, der wie ein Jüngling mit dem Schleier der vermeintlichen „Lydia“ spielte, sich damit aber in die 21-jährige ägyptische Thronrivalin verliebt hatte, was in Koloratur-Kaskaden aus ihm hervorbrach. Sopran-Star Pretty Yende war als Farbige natürlich schon als Bühnen-Erscheinung die ebenfalls perfekte exotische, damit auch erotische Traumfrau – und sang mit souveräner Agilitá.
Doch die tiefsten Eindrücke vermittelten zwei „Hausgewächse“. Die Portugiesin Cláudia Ribas gehört seit 2022 dem Opernstudio des Hauses an und ist mit ihrer reizvollen Bühnenerscheinung auch vokal so gereift, dass ihr schöner dunkler Mezzo jetzt das Schicksal der soeben verwitweten, aber von nahezu allen Männern begehrt-bedrängten Cornelia zum Drama aller Gewalt ausgesetzten Frauen in Machtzentren und Kriegszeiten bewegend Klang werden ließ. Noch zerrissener gestaltete Bianca Andrew Cornelias Sohn Sesto: ein Junge in Maske und Kostüm, war seine Gewalterfahrung mitzudurchleiden, die hin zum neuen Gewalttäter im Mord an Tolomeo führte – eine furiose Psychostudie für Hier und Heute, von einer jungen Künstlerin, die im Gesangswettbewerb einst scheiterte, in der aber Intendant Loebe als Juror das Potenzial erkannte und sie via Opernstudio ins Ensemble holte. Jubelstürme für sie alle – faszinierend in erschreckend zeitlosen Verstrickungen und Gewalterfahrungen bewegt von einem glänzend harmonierendem Bühnenteam. Aufzeichnenswert.
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