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Wenn sich der Schluß im Anfang wiederfindet

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Opern-Uraufführungen von Babette Koblenz und Mauricio Sotelo bei der Münchener Biennale
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Das Motto der 6. Münchener Biennale ist den letzten Monaten dieses Jahrtausends auf den Leib geschrieben: „...wie die Zeit vergeht“. Dieses Zitat – Stockhausen überschrieb in den 50ern auch einen auf seriellem Denken beruhenden Aufsatz mit diesen Worten – impliziert viel: in bezug auf unsere Existenz, auf die Musik allgemein, auf das Musiktheater im besonderen. Auf letzteres fokussierten die Denk- und Arbeitsansätze der Produktionen. Das Verhältnis zur Zeit oder zur Zeitgestaltung drückt den Musiktheaterproduktionen schon seit Beginn des Jahrhunderts, intensiver noch in seiner zweiten Hälfte, einen markanten Stempel auf. Neue Möglichkeiten von Zeitsprüngen, Zeitschichtungen, umgedrehten Zeitordnungen oder flexiblen Raum-Zeit-Strukturen wurden ausgelotet und brachten nebenher auch die hierarchischen Ordnungen von Handlungsverlauf zum Bühnengeschehen, mithin die narrativen Strukturen der alten Handlungsoper ins Wanken. Aspekte wie zum Beispiel die Reflexion der Oper auf ihre Gegenwart, in die sie kritisch eingreift oder auch schlicht die Frage nach Kriterien der Dauer eines Musiktheaterstücks, dem keine Handlung mehr einen, wenn auch ungefähren Rahmen vorgibt, rundeten die Debatten zum Verhältnis von Zeit zum Erklingenden. Die ersten beiden Opernuraufführungen der Biennale, Babette Koblenz’ Musik-Theater „Recherche – Über die Substanz der Zeit“ und Mauricio Sotelos Kammeroper „De Amore“, setzten denn auch bei einem großen Vorbau, einem formalen Aufriß an, der den Komplex der zeitlichen Strukturierung betrifft (und auch der dritten Oper, Vladimir Tarnopolskis „Wenn die Zeit über die Ufer tritt“, die in unserer nächsten Ausgabe besprochen wird, liegen vergleichbare Vorgaben vor). So wurde von Mauricio Sotelo in Zusammenarbeit mit dem Regisseur und Textautor Peter Mussbach ein Verlaufsrahmen erarbeitet, der die Entwicklung einer Liebesgeschichte vom ersten Entflammen über den Höhepunkt des Liebesvollzugs bis zum Abklingen der Liebe und zur Trennung des Paars in einer abstrakten Bilderfolge von Blitzlichtaufnahmen festhält. Fünfzig Schritte, im Schnitt von zwischen ein und zwei Minuten Dauer, stecken in symmetrischer Konstruktion den Verlauf ab. Meist geschieht an den „beleuchteten“ Stellen Unwesentliches, man redet in Worthülsen (etwa: „Du willst mich, nicht wahr! – Ich will nur Dich! – Warum? Warum gerade ich?“). An ihnen spiegelt sich ein psychologischer Prozeß, der vom Musiktheater ausgeklammert, nirgendwo nachvollzogen wird. Gleichwohl stecken diese Partikel, sie könnten auch aus mehreren Liebesgeschichten beliebig herausgepflückt sein, die Kurve ab, die am Schluß spiralig wieder zur Ausgangssituation zurückführt – freilich auf neuem Niveau. Dieses Kreisen, es ist ein Exempel von wiederkehrenden Schleifen, wird formal noch dadurch unterstrichen, daß die Kammeroper mit einem Epilog beginnt und mit einem Prolog – wohl für einen neuen Kreislauf – endet. Das Prinzip ist wohl nicht neu, Schnitzlers „Reigen“ steht als Folie im Hintergrund, vielleicht könnte man auch, dort freilich sublimer, Alban Bergs „Wozzeck“ als Vergleich heranziehen – das Reigen tanzende Kind Wozzecks in der Schlußszene dürfte bald einem Schicksalsverlauf unterworfen sein, der dem des Vaters ähnelt. Mit der Aufhebung der Zeit in ihrer Zielgerichtetheit – denn Kreis oder Spirale lassen kein Erreichen eines Endpunkts zu – kommt ein desillusionierendes Moment in Sotelos Musiktheater. Das Paar, hinter Masken zum entindividualisierten Typus zweier Liebender verkürzt, steht unter dem gnadenlosen Blick: So geht es uns allen immer wieder. Es ist ein interessantes Konzept, dem freilich auch die Musik zu genügen hätte. Hier aber waren wesentliche Defizite auszumachen. Sotelo setzt auf elektronische Klangmodifikation, auf vorproduzierte Bänder, die die Obertonbereiche von Klängen hervorheben und den Grundton wegblenden. Der wird dann in der Aufführung live hinzugeliefert. Eigenartige Hallräume entstehen dadurch, die Töne wirken maskiert und entidividualisiert wie die hinter Masken versteckten Protagonisten. Eingeschoben sind dann Passagen eines Flamenco-Duetts, das zum Geschehen, es intermittierend aufbrechend, Kommentare noch größerer Allgemeinheit liefert. Es sind Schattengestalten des Geschehens, Kommentare darüber – fast wie in einer Moritat, hier freilich mehrfach gebrochen durch den Flamenco-Ton, dem mitunter englische oder deutsche Sprache als zweite Brechung unterschoben ist. Des weiteren aber begnügt sich die Musik im wesentlichen mit der Herstellung symmetrischer Brücken, mit dem Konstrukt des komplexen Spiegelbaus, den Sotelo als Palindrom beschreibt. Dadurch aber verbleibt die Entwicklung weitgehend ohne Tiefenschärfung, und die Konzentrationskurve des Hörers schwächt sich im Laufe des Stücks spürbar ab. Das Konzept beißt sich in doppeltem Sinne in den eigenen Schwanz, einmal als gewolltes Konstrukt, das andere Mal aber als unbeabsichtigtes Egalisieren des Eindrucks. Das Ganze bleibt Spiel, ein Reigen, eine Spirale ohne die Wucht einer in neue Tiefendimensionen getriebenen Erfahrung. Sehr beachtlich freilich Salome Kammer und Markus Eiche als „Sie“ und „Er“ (mit von Mussbach sehr subtil geführter Bewegungsgestik in schlichter, erdiger Umgebung und großdimensionierter Herzens-Anreicherung in der Orgasmus-Nähe), sowie das Flamenco-Duo Eva Durán und Maria Heredia. Bei Babette Koblenz’ „Recherche“ wären letztlich ähnliche Beobachtungen zu machen. Ist das Sujet Sotelos traurig, weil es den Kreislauf von Sich-Verlieben und Trennen als mechanisierten, sich immer wieder, unabhängig vom Individuum, so ereignenden hinstellt, so greift Koblenz spontan auf den menschheitstragischen Vorgang von Vertreibung und Flucht zu (die Ereignisse unserer Tage wirken wie eine fatale Bestätigung). Szenen werden der Geschichte entnommen wie Wundmale wiederkehrender Tragik: der vertriebene Odysseus trifft auf seiner Irrfahrt den Seher Teiresias, 1492 werden aus Spanien die sephardischen Juden vertrieben, 1936 flüchten zwei Fotoreporter vor spanischen Faschisten. Diese Markpunkte sind mehrfach aufgebrochen, etwa durch ein rekonstruierendes Suchen der Geschichte in einem Filmatelier (hängende Filmstreifen künden von ungeordneter Vergangenheit), sowie durch Überlappungs- und Durchdringungsmechanismen: Personen reinkarnieren in neuer Gestalt in den verschiedenen Szenen, Schluß und Anfang werden über eine Flugzeugepisode zusammengebunden, am Schluß steht also wieder – wie bei Sotelo – der Anfang. Diese dramaturgische Anlage ist hochkomplex konstruiert und vermag während der Aufführung allenfalls zum Teil dechiffriert zu werden. Das Konstrukt aber leistet – und das scheint mir ein Manko – nur wenig zur vertiefenden Schärfung auf den Gegenstand. Der wäre ja doch die Betroffenheit über das menscheitsgeschichtlich noch nicht überwundene Faktum, daß Menschen andere Menschen in die Flucht schlagen. Babette Koblenz hat mit dem Dokumentarstück „Die Kinder von Bjelaja Zerkow“, das während der Ausstellung „Die Verbrechen der Wehrmacht“ 1995 in Hamburg und Berlin aufgeführt wurde, ihre Fähigkeit, tiefster Betroffenheit künstlerische Gestalt zu verleihen, nachdrücklich unter Beweis gestellt – durch engagiertes Ineinander von Nähe und notwendiger Distanz. Doch hier, so scheint es mir, verstrickte sich die Musik zu sehr in den Vorgaben, die das durchreflektierte Baugerüst stellt. Es gelingt ihr nicht im erforderlichen Maße, den Szenen ihren Stempel aufzudrücken. So entsteht ein fließendes Band, das allenfalls zu seiner Lockerung ins Leichtere aufgebrochen wird: mit rhythmischen Prozessen des von Koblenz so geschätzten Reggae, mit repetitiven Bändern geschlungener Melodiegestalten. Diese im Groben ebenmäßigen Verläufe sondern Farbe ab, sie duften nach sephardischer Musik, nach griechischen Textvortragselementen. Die Musik ist flexibel, aber eben auch relativ knochenlos. Gerade das erschütternde Sujet, das im Grunde sagt, daß wir nur den immer wiederkehrenden Fluchten nicht entkommen können, verlangte eine Härte, die diese häufig kolorienden Klänge leider nicht aufbringen. Freilich wäre auch der Aufführung durch Mitglieder des Philharmonischen Orchesters der Stadt Nürnberg unter Wolfgang Gayler nicht immer die höchste Präsenz zu bescheinigen. Regisseur Gottfried Pilz schließlich verliebte sich wohl etwas zu sehr in die Idee der durch Filmrollen repräsentierten, herabhängenden Zeit. Er bestückte den Stoff mit einer Sammlung von Regie-Requisiten, deren Dringlichkeit und erleuchtende Kraft nur schwer auszumachen war. So ähnelten sich die beiden ersten Produktionen der diesjährigen Münchener Biennale darin, daß einem höchst genau durchstrukturierten Konzept eine musikalische Umsetzung gegenüberstand, die dem Druck der Vorgabe nur schwer Stand zu halten vermochte.

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