Wie dankbar man war! – Gefühlt lag es ja eine kleine Ewigkeit zurück, da man im Konzert war, in Präsenz, mit den Ohren im Orchester, nicht am Lautsprecher, vor irgendwelchen High-End-Geräten, dank derer uns die Simulation allmählich zur zweiten Natur geworden ist. Neulich kam’s anders. Eine Ausnahmeregelung im NRW-Coronaschutzverordnungs-Verhinderungs-Kulturleben hatte sich aufgetan. Und so wurde es möglich, ein „Stück über uns und mit uns, aber für Euch!“ – als Pressevorführung. Die allein war übrig geblieben.
Die Premiere, wie alles andere auch, gecancelt, „Sehnsucht und Ahnung“, das jüngste Projekt von Ensemble Ruhr in den November verschoben. Wie hatte man geackert dafür! „Mit Sehnsucht und Ahnung“, heißt es nicht ohne Stolz auf der Ensemble-Homepage, „wurden wir für das Corona-Soforthilfeprogramm ‚Neustart – Orchester vor neuen Herausforderungen‘ der Beauftragten des Bundesministeriums für Kultur und Medien, Kulturstaatsministerin Monika Grütters, ausgewählt.“ Und wir versprengten Presseleute fühlten uns auch ausgewählt, um nicht zu sagen: privilegiert.
Eigentlich alles wie früher. Die eingeübten Rituale – problemlos abrufbar. Das Warten, die mit dem Warten parallel gehende, crescendierende Erwartung. Die Tür, die aufgeht. Das Eintreten, erst, zwecks Begrüßung, in einen Vorraum. Die Freude, wurde da versichert, sei ganz auf Seiten der Ausführenden! Und schon schob eine Hand den Vorhang zur Seite, gab uns den Weg ins Innere frei. Man kannte es – schaute, staunte trotzdem wieder einmal. Stahl und Glas, Höhe und Weite. Da war sie, und wir in ihr, die Stille, die Leere einer Industriekathedrale, wunderbar unaufdringlich, erhaben wie in der echten Kirche – wir standen in der Bochumer Jahrhunderthalle.
Dann Auftritt einer Art „Sehnsucht und Ahnung“-Conferencier. Dort Ihre Plätze – achtzehn an der Zahl! Tatsächlich, ein Vogelschwarm, ein hübsches Dreieck aus Stühlen. Wir nahmen sie ein und erfüllten sie, die Bitte unseres Platzanweisers, hielten Abstand und – blieben maskiert. Gespanntes Erwarten – vor uns, weit weit vor uns, die Glasfront am Kopf der Jahrhunderthalle. Milchige Nachmittagssonne. Und hinter uns, im Vorübergehen beim Eintreten hatten wir es erhascht, ein mit schwarzem Tuch verhängtes rundes Etwas. Und auf einmal, wie aus dem Nichts, fluteten ruppige Unisono-Akkorde den Raum, gehämmerte, dann huschende Triolen. Eine Musik, die sich fest im Unterbewusstsein eingenistet hat, eine Inkunabel der romantischen Kammermusikliteratur, Schuberts d-Moll-Streichquartett Nr. 14, bekannt als „Der Tod und das Mädchen“, ursprünglich die Matthias Claudius-Liedvertonung des Komponisten. Worauf sollte das hinaus?
Nicht auf eine Schubert-Konserve, soviel war klar. Die Klänge trotzdem verhängt wie hinter einem Schleier. Zugleich aber kräftig, füllig. Ganz klar also, das konnte nur die Bearbeitung für Streichorchester sein wie sie Gustav Mahler erstellt hatte, mit hinzugefügtem Kontrabass, sicherlich der größte Eingriff des Meisters in die Musik eines anderen. Egal. Wir lauschten diesem düster-feierlichen Gebilde hinterher, dem Allegro-Kopfsatz, dem Variationensatz. Dann war Schluss und was als Konzert begonnen hatte, ging weiter, nahm Tempo auf als Konzert-Installation. Unser Conferencier war munter geworden, versammelte uns, freundlich, aber bestimmt, vor den Schlupflöchern des schwarzen Etwas. In Grüppchen zu dritt durften wir eintreten und hatten nach insgesamt sechs absolvierten Runden – sechs mal drei macht achtzehn – den kompletten „Sehnsucht und Ahnung“-Parcours absolviert und unser (Kultur)Nichtleben unter Pandemiebekämpfungsbedingungen angeschaut, wie im Brennglas. (Wer sich die Spannung darauf bis in den November zur geplanten Premiere erhalten möchte, überspringe nachfolgenden Absatz.)
Was sich da auftat, schillerte vielgestaltig, schipperte lustvoll zwischen den Gattungen, war instrumentales Theater, war Sprechtheater, war Musiktheater und hatte die Intimität von Kammermusik, also Nähe und Ferne. Apropos Kammern. Letztere waren weit mehr als Sehnsucht und Ahnung, womit sich Ensemble Ruhr ein Wort der Dichterin Bettina von Arnim geborgt hatte. Traum, Trauma, Heimsuchung kamen wenigstens hinzu. Wer nämlich Pech hatte, gelangte zuallererst in das von Norbert van Ackeren gebaute, von Kristina Schmidt fröstelnd-aseptisch ausgestattete Interieur eines Impfzentrum-Warteraums: türkisfarbene Specktapete, Handspender. Der einzige Raum ohne Musiker. Gleich nebenan drei von Kristina Schmidt ganz in Weiß gekleidete Feen, musizierend, Pirouetten drehend in einem ironisierten Biedermeier-Ensemble mit nachempfundener Tapete, Fußleisten, Stuckbändern und einem alles sprengenden Sturm und Drang- Eintritt unseres Conferenciers, jetzt als fleischgewordener Angsttraum im Strampelanzug. Erschreckt, verschüchtert ließ ihn Regisseurin Katrin Sedlbauer diese #StayAtHome-Kammer betreten, auf dem Sofa zusammensinken. Und mit jeder neuen Runde öffnete die Regie neue blaubartsche Wunder-, Schreckenszimmer: Wir kamen in einen Keller – hinter hölzerner Lattenwand zwei tanzende Geigen; wir traten vor einen Teich – ein barfüßiger Cellist vor galaktischem Vorhang; wir besuchten eine Übezelle – ein Trio, separiert hinter Trennwänden; wir kamen in eine Gummizelle – vor uns endlich der hinzugefügte Kontrabass, dessen Spiel als erstes abriss, auseinanderbrach und die anderen mit ins Schlingern führte, worauf es unserem Cicerone (Klaus Brantzen) die Sprache verschlug, ihm nur noch der Ausruf „Vater!“ entfuhr: assoziatives Material aus Schuberts „Erlkönig“, also aus einer anderen Begegnung mit dem Tod.
Wir können so zusammenfassen: „Sehnsucht und Ahnung“, das ist ein Ensemble-Ruhr-Stück „über uns“ in Coronazeiten, eine Konzertinstallation mit Schubert, dessen Musik Stefan Hempel vom installativen Zentrum aus leitete, an den Bruchkanten auftrennte, wieder zusammenführte. „Sehnsucht und Ahnung“, das ist die verdichtete Antwort der Kunst auf ihre Verhinderung. „Sehnsucht und Ahnung“ – ein Spiel mit dem Endspiel, eine starke Performance, die uns Corona-Junkies am Technologie-Tropf, mitten im Lockdown, noch einmal einen überraschenden Blick ins (wahre Kunst-)Leben tun ließ. Wie dankbar man war!
- Premiere: 26.11.2021, 19.30 Uhr,
- Maschinenhaus Essen. Weitere Aufführungen: 27.11. und 28.11.2021.