Wie in alten Karajan-Tagen stand der Dirigent im Mittelpunkt. Auf den Plakaten und auf dem Programmheft dominierten Bild und Name von Kurt Masur. Wie Vignetten umrahmten ihn kaum briefmarkengroße Photos der beiden Solistinnen, während darunter viel kleiner der Name des Schleswig-Holstein Festival Orchesters zu lesen war. Der Veranstalter, die Deutsche Stiftung Musikleben, brachte damit offenbar seine Hierarchie der Werte zum Ausdruck.
Knapp zwei Wochen zuvor war das Schleswig-Holstein Musik Festival Orchester am gleichen Ort zu Gast gewesen. Beim damaligen Konzert, das im Rahmen des europäischen Musiksommers „Young Euro Classic“ stattfand, standen die jungen Musiker und eine fabelhafte Solistin, nicht aber der Dirigent Jukka-Pekka Saraste im Mittelpunkt. Anders als damals dominierte nun im Publikum nicht die Jugend, sondern die dunkle Kleidung von VIPs wie den Bundesministern Wolfgang Clement und Otto Schily, von CDU-Geschäftsführer Laurenz Meyer und DGB-Chef Michael Sommer, von Dorris Dörrie und Katharina Witt. Bis zum Einsetzen des ersten Tons standen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit, im Blitzlichtgewitter. Imponieren solcher Prominenz die Namen Masur und Schmidt mehr als ein internationales Orchester mit Musik von Alfred Schnittke, Johann Sebastian Bach und Anton Bruckner? Ist ihnen ein Event wichtiger als ein gutes Konzert?
Dabei ist es doch staunenswert genug, dass im Schleswig-Holstein Musik Festival Orchester 130 Musiker/-innen aus 31 Ländern innerhalb eines Sommers zu einem homogenen Klangkörper zusammenwuchsen, dass Russen und Litauer, Chinesen und Taiwanesen, Ägypter und Israeli dabei Pult an Pult sitzen. Während des Sommers 2003 haben sie nicht nur mit Masur, sondern auch mit Christoph Eschenbach, Sir Neville Marriner, Jukka-Pekka Saraste und Dennis Russel Davies zusammengearbeitet. Sie lernten damit, sich auf die Eigenarten unterschiedlicher Persönlichkeiten einzustellen.
Im Vergleich zur choreografischen Eleganz Sarastes wirkt Masurs stabloses Dirigieren grob und ruppig. Und dennoch konnte Masur dem braven Modernismus von Schnittkes Komposition „(K)ein Sommernachtstraum“, bei dem gelegentlich dissonante Gegenstimmen und Cluster das Barockidyll störten, die nötigen Konturen verleihen.
Das Programm orientierte sich an den Eckstationen dieser Deutschlandtournee, die in Hamburg begann und nach Greifswald und Berlin in Leipzig endet. Nach der Einleitung mit Schnittke, die auf dessen letzten Wohnort Hamburg verwies, standen Bachs Doppelkonzert und die in Leipzig uraufgeführte 7. Symphonie Anton Bruckners für die traditionsreiche Musikstadt, wo Masur für ein Vierteljahrhundert als Gewandhauskapellmeister wirkte. Wie bei vielen der jüngeren Klangkörper ist auch im Schleswig-Holstein Orchester der Streicherapparat vor allem weiblich zusammengesetzt. Johann Sebastian Bachs d-Moll-Doppelkonzert BWV 1043 mit den von der Stiftung Deutsches Musikleben geförderten Solistinnen Viviane Hagner und Tanja Becker-Bender war deshalb weitgehend in Frauenhänden. Dies schließt den Wettbewerb nicht aus, jenen Wettstreit, wie ihn der Begriff Konzert meint. Schon im ersten Satz, der im straff akzentuierten Non legato gespielt wurde, fiel Hagners strahlender Violinton auf, dem der ihrer Kollegin nicht ganz gewachsen war. Liegt dies wesentlich daran, dass Viviane Hagner eine Stradivari spielt, Tanja Becker-Bender dagegen eine Guarneri? Gute Instrumente sind oft entscheidend, weshalb die Deutsche Stiftung Musikleben vor zehn Jahren dafür einen eigenen Fonds eingerichtet hat.
Bruckners 7. Symphonie bedeutete dann aber die Stunde des Orchesters. Hier bewährte sich Masurs oft nur andeutendes Dirigat, das den jungen Musikern kleine, aber doch bedeutsame Freiräume für Eigeninitiative ließ. Während zuvor Saraste ausgefeilte Bewegungen solche Momente von Spontaneität nicht zugelassen hatten, merkte man nun, wie das Orchester etwa bei den Verzögerungen und Beschleunigungen in der Durchführung des Kopfsatzes aufeinander hörte. Ähnlich gut gelang das Sich-Ablösen der Stimmen im Beginn des Finales. Dies führte hier zu einem spannungsvollen Wachsen der Musik, das aufhorchen ließ, während die Schlusscrescendi mehr laut als mächtig gerieten und von wirklicher Beseelung kaum je etwas zu spüren war.
Dass aber bei einer so kurzen Zusammenarbeit überhaupt solche Gemeinsamkeit erzielt wurde und sich im großen Adagiosatz der warme Klang der Streicher und der Wagnertuben so schön zusammenfügte, ist aller Bewunderung und tatkräftiger Förderung wert. Falls sich diese Erkenntnis im Saal verbreitete und dort Wirkung erzielte, diente dieser Abend am Ende doch der Musik und nicht nur einer Personality Show.