Dass Antonio Salieri nicht einmal mutmaßlich der Mörder Mozarts gewesen sein dürfte, hat sich inzwischen selbst unter den harthörigsten Freunden der „klassischen Musik“ herumgesprochen (das große Genie im extrem kleinen Körper hat sich selbst ruiniert). Und längst ist der Bann gebrochen, der mehr als hundert Jahre lang über dem großen Opernkomponisten Salieri zu liegen schien.
Nachdem „Axur, re d’Ormus“ in den 90er Jahren in Verona reaktiviert wurde, folgten allein von diesem Werk weitere Wiederaufführungen in Darmstadt, Winterthur und Augsburg; die höchst brisante und zum Entstehungszeitpunkt offensichtlich unmögliche Terroristen-Oper „Catilina“ wurde mit zweihundert Jahren Verspätung in Darmstadt uraufgeführt und selbst Gelegenheitswerke wie „Europa Riconosciuta“ (Mailand 2004) oder „Cifra“ (Köln 2006) kamen zu neuen Ehren. Und nun auch der „Falstaff“ wieder, der 1799 im Kärtnertortheater in Wien mit durchschlagend „dickem“ Erfolg uraufgeführt wurde. Er ist seit einem halben Jahrhundert wieder gern gesehener Gast auf den Bühnen Europas – in Siena und Salzburg, Triest und Parma, Bordeaux und Drottningholm oder Schwetzingen. Und nun – und dort gehört er zuvorderst hin – im Theater an der Wien.
René Jacobs, der prägende Kopf der neuen Wiener Falstaff-Produktion, verweist darauf, wie sehr gerade auch Antonio Salieri unterm Einfluss des Opern-Reformators Gluck gestanden habe. Salieri, der Wiener Hofkomponist, besaß ein feines Sensorium für Tendenzen der Zeit und deren Sound. Sind die Ohren erst einmal geschärft für die Fortschreibungen der formalen Errungenschaften – das betrifft besonders die Auflösung der schematischen Abfolge von Rezitativ und Arie – dann rufen sich die Fermente der Modernität diese Opera comica vom Ende des 18. Jahrhunderts in Erinnerung. Das aufsässige, rebellische „Ah! Ça ira, ça ira“ aus Frankreich und der zur selben Zeit in England aufkommende Kontratanz fanden Eingang in Salieris höchst sorgfältig instrumentierte Partitur.
Sowohl der Dirigent Jacobs wie Torsten Fischer als Regisseur der Wiener Neuproduktion verweisen auf die Momente der „Gesellschaftskritik“, die sie diesem „Falstaff“ ablauschen. Fischer nimmt den Begriff wörtlich und nimmt – aktualisierend – eine bestimmte Society aufs Korn: „die aktuelle englische Königsfamilie, die ja ein Feenreich des Entertainments für die Klatschpresse und die Bevölkerung der Welt bietet“.
Vor dem Hintergrund, dass Carlo Defranceschis Libretto auf Shakespeares Komödie „Die lustigen Weiber von Windsor“ beruht, ist die Fokussierung auf die heutige weibliche Lust im Hause Windsor durchaus pfiffig. Tatsächlich sind sie alle gleich von Anfang an dabei. Vornan die greise Königin Elizabeth, der ihr Gatte Philipp nachdackelt; beide sind über ein kleines Beispiel des allgemeinen Sittenverfalls auch bei Hofe – rascher Sex des Personals auf dem Weg zur Besenkammer – nicht amüsiert. Auch Kate ist mit von der Partie (sogar in der stimmführenden der Mrs. Ford) und irgendwie – nicht ganz so lebensecht getroffen – der ewige Thronfolger Charles und seine Camilla.
Da Salieris Oper mit einem Festbankett beginnt, ist es durchaus sinnfällig, dass Torsten Fischer dieses Fest und sein „Gesellschaftsleben“ als Rahmenhandlung für die drei Intrigen exponiert und beibehält. Mit dem, was gemeinhin als „köstlicher Theaterhumor“ gilt, werden diese „tre burle“ ausgezeichnet, auch mit deftigen Anleihen beim Boulevard-Theater: Da prallen Falstaff als fett-schmuddeliger Hochstapler und sein vorzüglich agiler Diener Bardolf in die königliche Gesellschaft und benehmen sich gebührend daneben. Indem der Charakter-Bassist Christoph Pohl, der die Selbstüberschätzung des Falstaff mit parodistischer Verve ausspielt, beim Anlauf zum zweiten Verführungsversuch von Mrs. Ford den angeschnallten Fettwanst ablegt und sich als viriler Kerl in den besten Jahren entpuppt, wird deutlich, dass die allzu sehr mit ihren Geschäften befassten Ehemännern vielleicht doch ein wenig Grund zur Eifersucht haben könnten.
Einige Zwischenspiele werden vom Hammerflügel aus mit Ludwig van Beethovens Klavier-Variationen über das Duett „La stessa, la stessissima“ aus Salieris „Falstaff“ bestritten – das signalisiert, wie up to date diese Oper 1799 gewesen sein muss: dass der sich zu ungeahnter Größe aufschwingende junge Beethoven nicht nur seinem Lehrer Salieri huldigte, sondern als Improvisator an etwas anknüpfte, was in aller Ohren und sein Super-Hit gewesen sein dürfte.
Mirella Hagen ist als Zofe und Dienerin Betty das schauspielerisch agilste und sängerisch beglückendste Element in einem insgesamt kompetenten Sänger-Septett. Ihre groteske Einlage als Animateurin in der Lederhose gehört zu den derb-subtilen erotischen Kabinettstücken. Und wenn es am Ende des ersten Akts durchsichtige kleine Plastikbälle vom Bühnenfirmament wie aus Kübeln regnet, dann ahnt man schon, dass der aus dem Wäschekorb ins Wasser gekippte Falstaff darin ein Bällebad wird nehmen müssen. Als hervorragend aus dem Team der Royals erweist sich auch Anett Fritsch als Alice Ford – und die Akademie für Alte Musik Berlin ist als angemessene und ebenbürtige Partnerin des musikalischen Geschehens mit Fug und Recht an die Wien eingeladen worden.