Im antiken griechischen Theater hatte die Musik eine entscheidende, sinngebende Funktion. Auf dem Rund der Orchestra gaben die Apollon-Priester ihre als Choros melodramatisch intonierten Vokal-Darbietungen, begleitet von jenen drei Grundformen des Instrumentariums, die noch heute das Orchester bestimmen: Blas-, Saiten- und Schlaginstrumente. Die Lauterzeugung hatte transzendenten Charakter, denn die Auloi waren aus Knochen geschnitzt, die Saiten waren Gedärme und die geschlagenen Resonanzflächen Häute: Musik basierend auf Leid und Tod, zugleich ein Schwellengang zum Jenseits. Erst im 20. Jahrhundert wurden die drei Instrumentengruppen erweitert – um elektronische Instrumente mit noch mehr Klangmöglichkeiten, auch in technisch erzeugter Nähe zu bekannten Klängen aus der Natur.
Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Trennlinie zwischen Schauspiel und Oper, was deren Aus- und Aufführungen anging, durchlässig. Die Ausführenden in Oper und Schauspiel waren in der Regel identisch, die Primadonna im Musiktheater war zugleich die Donna Seconda des Schauspiels und umgekehrt. Die wenigen Instrumentalisten der Truppen, die im dritten Akt häufig durch am Ort stationierte Bläser des Militärs verstärkt wurden, kamen bei Oper und Schauspiel gleichermaßen zum Einsatz. Auch der Schwierigkeitsgrad der Schauspielmusiken – siehe etwa Beethovens „Egmont“ oder „Die Ruinen von Athen“ – unterschied sich nicht von jenem, welcher für die Ausführung der Opernpartituren erforderlich war.
Nur äußerst wenige Schauspielhäuser verfügen heute noch über ein eigenes Orchester, und in Mehrspartenbetrieben kommt das Orchester in Schauspielproduktionen in der Regel nicht zum Einsatz. Allerdings ist auch im 21. Jahrhundert Musik aus Schauspielaufführungen kaum wegzudenken, heutzutage allerdings häufig aus der Konserve. Live-Musik und Konserve, zum Teil bunt gemischt, gab es auch bei jenen Dramen, die beim 52. Berliner Theatertreffen gezeigt wurden. Den roten Faden der Auswahl bildete die gesellschaftspolitische Ausrichtung. Nach jeder Aufführung wurde die von einer Reihe Berliner Theater und dem Theatertreffen selbst unterzeichnete Proklamation gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und des Berliner Senats verlesen, gekoppelt mit einem Spendenaufruf zum Wiederaufbau des durch Brandanschlag zerstörten Kreuzberger Flüchtlingsheims „Haus der 28 Türen“.
Die sich an Aischylos’ „Schutzflehenden“ reibenden Texte von Elfriede Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ werden durch heutige Wortspielereien ad absurdum geführt oder gebrochen. In die Inszenierung ist ein Chor von Flüchtlingen (aus dem Iran und aus Afrika) integriert. In der Live-Musik-Darbietung von Daniel Regenberg wechseln atmosphärisches Bass-Saiten-Brummen des Flügels und elektronisches Glockenspiel mit einem Musical-Songton à la Grips-Theater.
Zwei Produktionen aus dem Wiener Burgtheater brachten nicht das dort noch existierende Schauspielorchester mit. In Ewald Palmetshofers „Die Unverheiratete“ erscheinen die immer wieder aufgegriffenen Satzteile im Verlauf des pausenlosen, zweieinviertelstündigen Abends als Motive und Themen einer großen, symphonischen Wortkomposition.
Vier Schwestern deklamieren wie ein griechischer Chor in verschränktem Erzählduktus. Mit österreichischer Volksmusik auf dem Akkordeon begleitet eine junge Frau die Erzählung ihrer vergangenen Nacht, dabei repliziert sie mit tonlosem Gebläse die Geräusche des schnarchenden Mannes. Melodramatisch wird von webermichelson das sonstige Geschehen mal atmosphärisch, mit Donnerblech oder Regenstamm, mal mit einem Rapsong-Tanz „Thomas Bernhard“ untermalt, besonders gerne aber mit ostinat nervendem Handyklingeln.
Für die Musik in Karin Henkels gefeierter Inszenierung „John Gabriel Borkman“ zeichnete Arvild J. Baud verantwortlich: elektroakustisch donnerndes Aufstampfen der Titelfigur und Heimorgel-Spiel (elektronisch vorproduziert), live ein zweistimmiger Choral-Gesang sowie ein italienischer Schlager. Ohne die in Coppolas Film adaptierte Musik des Walkürenritts kommt die Fortschreibung von „Apocalypse Now“ in Wolfram Lotz’ „Die lächerliche Finsternis“ aus. In dem mit vier jungen Schauspielerinnen besetzten Männerstück ist in der durchgespielten Pause zum Realklang von Holzfräse und Wasserzerstäuber die Endlosschleife eines zuvor von den Darstellerinnen intonierten, vierstimmigen A-cappella-Gesanges zu hören, angereichert mit Solos und melodramatisch erklingenden Texten.
Ebenfalls als Melodram, von Popmusik unterlegt und akustisch schwer verständlich, beginnt Frank Castorfs eigenwillig mit dem Indochina-Krieg collagierte und darum vom Suhrkamp Verlag namens der Brecht-Erben verbotene „Baal“-Inszenierung. Live-Darbietungen aus „Madama Butterfly“ und „Gianni Schicchi“, zum Teil a cappella, sind in die Szenenfolge integriert, dazu heißt es sibyllinisch: „Wer schätzt die Musik der Weisen, der muss begehren!“ Zuletzt kündigt Andrea Wenzl noch einen Song an, und „der hat mit all dem hier nichts mehr zu tun“; dann setzt sie nach: „Jetzt hab ich’s vergessen“, und es folgt rockige Applausmusik.
Max Reinhardt hatte am Deutschen Theater nicht nur die berühmtesten bildenden Künstler seiner Zeit – wie Edvard Munch und Lovis Korinth – als Bühnenbildner engagiert, sondern auch junge, innovative Tonsetzer jener Epoche – wie Hans Pfitzner, Engelbert Humperdinck und Edwin Geist – als Bühnenmusikkomponisten für die junge Dramatik gewonnen. Der Theatermagier prognostizierte für die Zukunft des Theaters „eine noch viel intensivere Verbindung von Musik und Theater“. Er hat Recht behalten.