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Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen

Untertitel
„John Cage Uncaged“ – ein dreitägiges Projekt der BBC im Barbican Centre London
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Man ließ ihn noch einmal heraus aus seinem Käfig, diesen Anarchisten, Philosophen und – laut Schönberg – keineswegs Komponisten, sondern genialen Erfinder, auch wenn seine Begierde, jedes ihm in die Hände fallende Objekt seiner konventionellen Bedeutung zu berauben, bei aller Faszination musikalisch wie theoretisch letztlich der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts angehört.

Unter dem sinnvollen Titel „John Cage Uncaged“ bot die British Broadcasting Corporation (BBC) anlässlich ihres jährlich einem Komponisten gewidmeten, dreitägigen Januarwochende in Londons Barbican Centre noch einmal die gerade von der Jugend erstaunlich zahlreich frequentierte Gelegenheit, John Cages „gewissenhaften Umgang mit dem Zufall“ nachzuvollziehen. Zehn Konzerte in der Barbican Hall, sowie den Kirchen St. Giles Cripplegate und St. Luke’s stellten einen repräsentativen Querschnitt aus dessen Œuvre vor. Es fand seine Ergänzung in Kompositionen seiner amerikanischen Vorgänger Charles Ives, Henry Cowell und George Antheil, in Beispielen seiner New Yorker Zeitgenossen Earle Brown, Morton Feldman und Christian Wolff, aber unter anderem auch in einzelnen Werken von La Monte Young, Lou Harrison, Edgar Varèse und Erik Satie (darunter selbst „Vexations“, in dessen Aufführung sich von 18 Uhr bis zum nächsten Mittag 12 Uhr über 50 Pianisten unterschiedlichster Herkunft, ja selbst Kritiker teilten). Lediglich Aaron Copland, William Schuman und Alan Hovhaness schienen in diesem Zusammenhang denkbar deplaziert. Neben Filmen und Diskussionen durfte ein originaler Pilzgarten nicht fehlen. Für den kostenlos zugängigen, geräuschvollsten wie fantasiereichsten Höhepunkt sorgte der amerikanische, in England beheimatete Komponist Stephen Montague, ein Freund und einstiger Mitarbeiter von John Cage, mit einem zweiteiligen, jeweils auf 45 Minuten begrenzten „Musicircus“. Rund 350, auf 52 Gruppen verteilte Mitwirkende füllten über sämtliche Foyers den gesamten Barbican Hall-Komplex. Er gab damit ein Beispiel, wie sich Cage die Musik der Zukunft vorstellte; „Musik und visuelles Geschehen“, so Stephen Montague, „kommen von unerwarteten Stellen und unerwarteten Räumen. Das Gegenüber von Klangchaos und Schweigen erwartet von uns, als Musik entdeckt zu werden.“ Dabei sind den Beteiligten – und es sind bei weitem nicht nur Musiker – bei der Menge und Divergenz von Klang- oder Geräuschzufällen keine Grenzen gesetzt, sie unterliegen keinerlei Auflagen. Lediglich die Dauer von Sound und Schweigen jeder einzelnen Gruppe oder jedes Solisten ist exakt festgelegt und bindend. Innerhalb dieser wahren Orgie konnte sich das Publikum frei bewegen und sich von immer neuen visuellen oder akustischen Standpunkten dem Geschehen ausliefern. „Wir ignorieren Lärm, weil er uns stört. Wenn wir zuhören, finden wir ihn faszinierend“, so John Cage. Viele der anwesenden Kinder waren nicht dieser Meinung und hielten sich die Ohren zu.

Alle Konzerte wurden wie üblich live oder zeitversetzt im dritten Hörfunkprogramm übertragen – „Cage in his American Context“ als Auftakt sogar im vierten Fernsehprogramm. Nicht so allerdings der Musicircus, denn „eine Tonbandaufnahme eines derartigen Werks ist nicht wertvoller als eine Groschen-Postkarte; sie vermittelt Wissen um etwas, das sich begeben hat, wohingegen die Aktion das Nichtwissen um etwas war, das sich noch nicht begeben hatte“ (Cage). Umso interessanter blieb die Tatsache, dass viele seiner Kompositionen im Radio und damit ohne die Beigabe visueller Erweiterung sehr viel mehr mit Musik gemein hatten als ursprünglich erwartet. Dies galt insbesondere für „Aria“(1958) für Solostimme mit der überragenden Sopranistin Loré Lixenberg (auf der Bühne mit Staubsauger und anderen Hausutensilien), für „Song Books“(1970) für zwei Soprane und Klavier – die beiden Damen hatten so mancherlei im Visier, darunter, den großartigen Pianisten Rolf Hind seiner Hosen zu entledigen oder einer Zuhörerin schluchzend in den Schoß zu fallen – und „Apartment House 1776“ (1976) in der Originalversion mit dem wiedergefundenen Uraufführungstonband der Sänger protestantischer, sephardischer, afroamerikanischer und nordamerikanischer Lieder – ein geniales Werk, das in seinem kakophonischen Facettenreichtum an Charles Ives gemahnt.

Nach dem Motto „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus“ (Goethe „Faust“) gab es Cage in Hülle und Fülle – vom präparierten Flügel über Streichquartette oder „Constructions in Metal“ bis hin zu klangüberladenen Orchesterwerken. Selbstverständlich fehlte auch „4’33’’“ nicht, doch erstmals in einem Arrangement für großes Orchester. Lawrence Foster trat vor das BBC Symphony Orchestra, hob den Taktstock und das dreisätzige, vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden währende Schweigen nahm seinen Lauf, ohne von Handys gestört zu werden. Cage dürfte darauf stolz gewesen sein, dass er mit dieser Version posthum die Rundfunktechnik vor die Lösung eines kniffeligen Problems gestellt hatte: da Schweigen für dieses Medium nicht vorgesehen ist, schaltet sich bei Unterbrechung einer Sendung automatisch Musik ein. Doch die BBC verhalf Cage zu seinem Recht : auch aus dem Radio drang – abgesehen von einigem Hüsteln – lediglich Schweigen. Fazit: John Cage bleibt jenes anarchistische Unikum, das die gesamte westliche Musikgläubigkeit einem dringend nötigen Frühjahrsputz unterzog und zumindest endlose Denkanstöße hinterließ.

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