Im Rahmen des „Forum N“ des hr-Sinfonieorchesters war für den 30. April ein Konzert unter anderem mit neueren Werken von Nicolaus A. Huber und Samir Odeh-Tamimi geplant. Ob es bei diesem Termin bleibt, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Stefan Pohlit, dessen Orchesterstück „Vapur“ uraufgeführt werden sollte, hat einige Gedanken zum Programm notiert.
An Ausnahmezustände bin ich ebenso gewöhnt wie an den Missbrauch der Religion. In der Nacht vom 15. Juli 2016 heulten auch auf den Istanbuler Inseln die Minarette. Während man in den Supermärkten um die Wette kaufte, machte ein Schiff die Runde, um Freiwillige in die Stadt zu bringen. Die Gülenisten verstummten, doch die Wendehälse, die das System auf mich gehetzt hatten, blieben unbehelligt. Nach dem langen, verlorenen Kampf um meine Arbeit und verschiedenen Anschlägen waren meine Frau und ich bereit, in Izmir von vorn anzufangen. Wir wurden von der Polizei abgehört und entkamen immer nur knapp dem Hunger. Um meine Unschuld zu beweisen, musste ich einen Prozess gegen den Staat gewinnen. Die Erfahrung, hilflos allein zu stehen, hat mein Verhältnis zur Gesellschaft erschüttert.
Der Titel meines Auftragswerks für den hr, „Vapur“, erinnert an jene Dampfer, auf denen ich einst von der Insel zur Arbeit fuhr: die ‚Belle Époque‘ als Bindeglied mit der Allgegenwart des Krieges, das Orchester als Schiff, als mythologischer ‚steam punk‘ erfüllt vom Wehgesang Vertriebener, Gebetsruf, Nebelhörnern, Möwengeschrei; meine Angst, wieder verstoßen zu werden. Durch Umkehrung des Flüchtlingsgedankens will ich den Leviathan aus meinem Bauch treiben. An geopolitischen Spannungen hat sich mein Aufbruch nach Osten einst entzündet. Im Zeitalter des „We came, we saw, he died“ glaube ich an die Wallraff’sche Selbstunterziehung, das Bonhoeffer’sche Schuldbekenntnis und die Praxis der Sufis, den „eigenen Spiegel“ zu reinigen.
„Politisch meint ja nicht, hinter den […] Bewegungen hinterher zu komponieren“, schreibt Nicolaus A. Huber, der im Dezember seinen 80. Geburtstag feierte. In seinem Orchesterstück „…der arabischen 4“ von 2018 hat er sich auf intime Weise dem Islam gewidmet. Mansur Zalzal (jenem Lautenisten, auf den die Legende die ‚neutralen‘ Sekunden und Terzen zurückführt) huldigt er als einem Erfinder der Klangkunst, der die Einheit von Ton und Zahl als früher Empiriker durchbricht. Während die Philosophie der Griechen erst auf Arabisch ins Abendland vorstieß, war ihre Musiktheorie zwar nie vollständig aufgehoben. Gleichwohl wäre Abstraktion an sich ohne das Konzept der Chiffre (arab. sifir = null) undenkbar – manifest in der epistemologischen Trennung zwischen Geist und Materie, die zum ersten Mal im Koran aufscheint. Sporadische Allusionen erheben die instrumentale Plastik zum „Doppelspaltexperiment“. Ähnlich wie in Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ liegt dem Gewebe ein Dualismus zwischen Urbild und Verfremdung wie eine zweite Haut auf.
„Fana’, Entwerdung!“, tönt die letzte Schwelle vor der Einheit mit Gott. Der Übergang vom Teilchen zur Welle beschäftigt auch Samir Odeh-Tamimi in „Rituale“ von 2008. Stefan Fricke bemerkt den „Aufschrei“, der sich durch das Schaffen des Palästinensers zieht. „Ohne Anklage“, muss ich hinzufügen, was angesichts seiner Wurzeln überrascht. Als einer von wenigen nahöstlichen Komponisten ist er über ethnische Grenzen hinausgewachsen. Er, der in seiner Jugend viel von jüdischen Einwanderern lernte, versteht sich nicht als Vertreter einer Volksgruppe, sondern als Medium einer universalen Musik, die ihn „als Mensch, als Künstler“ befreien soll. Die nervöse Kraft seiner Intuition ist spezifisch auf das Werk gerichtet, wodurch er sich kontinuierlich neu erfindet und diejenigen enttäuscht, die in ihm lediglich den ‚noble savage‘ erkennen. Das Kollektiv zerfällt in eine frenetische Masse, in der zeitweise jede Stimme eine eigene Richtung einschlägt. Das Orchester in dieser Elektronenwolke wird an seinen eigenen Instanzen gemessen, indem sich das Phänomen real und urteilsfrei vollzieht. Handelt „Vapur“ vom Untergang, beschwört Odeh-Tamimi die Ekstase – ein Echo aus seiner Kindheit, von den Drehzeremonien seines Stiefgroßvaters, der als mystischer Lehrer überregional verehrt wurde. „Wer Vorbereitung braucht, ist noch nicht da“, so das Ethos dieses Heilers und Weisen.