„Die atopische Musik steht über allen Stilen, sie amalgamiert alles und sucht nach der Wahrhaftigkeit in Allem: dem Banalen, dem Raffinierten, dem Albernen, dem Kitschigen. […] Die atopische Musik will immer […] die Summe aller Musik sein. Die atopische Musik weiß, dass diese Summe nie möglich ist, da sich unter ihr immer wieder ein neues Fenster öffnen kann, das einen neuen Blick eröffnet.“
Es ist das Schicksal von ausführlich publizistisch sich äußernden Komponisten, dass sie sich dann auch an den eigenen Zitaten messen lassen müssen. Moritz Eggert gehört zu dieser Gruppe, und so süffig und wenig zimperlich er sich in seinen Texten (unter anderem für diese Zeitung und für den „Bad Blog of Musick“ im nmz-Netz) zu musikästhetischen und kulturpolitischen Fragen äußert, so will er auch komponieren: unangepasst, abseits von den Klischees der Neuen-Musik-Szene, eine Musik, die sich bewusst den Schubladen, der genauen Verortung entzieht, also ortlos – atopisch ist.
Dazu gehört für Eggert auch die Freiheit, den ganzen Kosmos der ihn und uns umgebenden Musik mit hereinzunehmen. „Muzak“ für Stimme und Orchester, das Anfang Juni beim musica viva Wochenende in München uraufgeführt wurde, macht genau dies zum Thema: Denn die Anspielung im Titel bleibt nicht bei einer Persiflage oder einer kompositorischen Vernichtung jener berüchtigten Hintergrundbeschallung in Kaufhäusern oder Fahrstühlen stehen. Vielmehr will Eggert hörbar machen, was die Allgegenwart von Musik, auch von solcher, die uns eigentlich viel bedeutet, mit uns anstellt.
Jeder kennt die merkwürdigen Assoziationen, die die verschiedensten Klangfetzen auslösen können, diese akustischen Déjà-vu-Erlebnisse, bei denen das Hirn Musiken zusammendenkt, die nicht zusammengehören. Nimmt man dann auch noch Songtexte und Gesangsstile aus dem Jazz- und Popbereich hinzu, ist der Musiksalat perfekt. Eggert lässt also einen Vokalsolisten – bei der Uraufführung übernahm er den Part gleich selbst – und ein groß besetztes Orchester einen solchen Salat anrühren: Die knackigen Texte, die entweder wörtlich oder als Anspielung auf bestimmte Songs und Schlager verweisen, werden mit knapp vierzig genau festgelegten Vokalstilen, so genannten „Templates“, gewürzt und mit üppiger instrumentaler Sauce nebst Band-Einsprengseln verfeinert.
Während Gesangscharakter und Textassoziation meist zusammenpassen (Elvis: „Just one more night, Baby“, Tom Waits; „the never ending rain will fall“), stellt sich das Orchester bisweilen quer dazu. Da darf der Symphonic Rock dann auch mal ein wenig zerbröseln, darf das Orchester sich nach der langen Bowie-Passage (dem Andenken des unlängst Verstorbenen ist das Werk gewidmet) in einem kleinen avantgardistischen Tumult verlieren. Ansonsten schmiegt es sich mit Zitaten und Allusionen von Mahler und Satie (Stichwort „musique d’ameublement“), über Broadway und die Beatles („A day in the life“) bis hin zu Mowtown und HipHop dem an, was der beachtliche Performer Eggert als wildgewordene menschliche Jukebox im abrupt wechselnden Zufallsmodus so ausspuckt.
Eine Zeit lang macht das Ganze ziemlich Laune und erreicht an einer Stelle, an der von der Lohengrin-Ouvertüre über die englische Pastoralsinfonik bis zur Filmmusik hundert Jahre Musikgeschichte in einem Wimpernschlag vorüberziehen, eben jene faszinierende Unschärfe der Klangerinnerung, die Eggert wohl vorschwebte. Über die knappen drei Viertelstunden, die der mit bisweilen arg dürftigem Humor („André Rieu … fk, fk, fk…“) angereicherte Parforce-Ritt dauert, trägt die Idee allerdings nicht. Die Summe der Einzelteile schlägt nicht in ortlose Wahrhaftigkeit, in Atopie um. Eine kürzere Version, möglicherweise mit einem Sänger, der auch die ehrlich gemeinten vokal-emotionalen Höhepunkte beglaubigen könnte, würde man aber jederzeit gerne noch einmal hören.
Der Rest des musica viva Wochenendes gehörte dann – neben einer Hommage an Josef Anton Riedl (siehe unten) – ganz dem amerikanischen Altmeister Steve Reich, dem das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter David Robertson eine leuchtende Aufführung der „Desert Music“ und Studierende der Münchner Musikhochschule exemplarische, in virtuosem Tempo angegangene Versionen von „Drumming“ (Teil 1) und „Music for 18 Musicians“ widmeten.
Zurück zu Eggert, der zum Ende der Saison am Landestheater Linz eine weitere Gelegenheit hatte, mit seiner Musik Neuland zu betreten. „Terra Nova oder Das weiße Leben“ hieß die Steilvorlage, die der Dichter Franzobel und der scheidende Linzer Intendant Rainer Mennicken ihm dazu liefern wollten. Was bei dieser langwierigen Gemeinschaftsarbeit an unausgegorener Science-Fiction-Soap herauskam, war allerdings nicht dazu angetan, eine musiktheatralische Sternstunde auszulösen. In weitgehend unsanglicher, um augenzwinkernden Humor und sarkastische Schärfe stets nur bemühter Sprache arbeitet sich das Libretto an einer Story ab, die lauthals in Richtung „Space Odyssey“ und „Body Snatchers“ aufbricht, um am Ende auf der Stilhöhe einer schwächeren „Star-Trek“-Folge zu landen: Auf der Suche nach einer bewohnbaren Alternative zum kaputten Planeten Erde verheißen Signale außerirdischen Lebens Hoffnung. Die energiespendende „weiße Materie“ ergreift aber von den Menschen Besitz und höhlt deren Seelen aus.
Eggert hat alle Hände voll zu tun, die Textmengen abzuarbeiten und den großorchestralen Apparat (konditionsstark das Brucknerorchester unter Dennis Russel Davies) mit seinem bewundernswerten Stilmix am Laufen zu halten. Dieser wirkt bis auf wenige Passagen (darunter die Terzette der Astronauten) aber trotz der frech auftrumpfenden Geste eher unentschlossen, scheint in seinen schnellen, filmschnittartigen Wechseln ständig auf der Flucht vor sich selbst zu sein. Für die feindliche Übernahme durch das „weiße Leben“ deutet Eggert dann zunächst eine stimmliche Entsprechung von der akustischen Verfremdung bis hin zum Sprechen an. Am Ende herrscht aber wieder dröhnendes, voll ausgesungenes Pathos der neuen Aliens vor. Das mag doppelbödig gemeint sein, kommt aber oberflächlich an. Das ist umso bedauerlicher, als Regisseur Carlus Padrissa hier mit einem endlosen Gang aus der beeindruckenden Tiefe der neuen Linzer Opernbühne endlich einmal ein eindrückliches, nicht bloß vordergründig spektakuläres Bild gelingt.
Die atopische Musik ist Eggert uns noch schuldig.