Je mehr das Bedürfnis einer Gesellschaft wächst, sich eines ihrer höchsten Güter zu versichern, desto unsicherer scheint sich diese Gesellschaft darüber zu werden, welche Gültigkeit dieses Gut noch hat. Derlei verunsichernde Versicherungsversuche häufen sich gegenwärtig in Bezug auf die „Freiheit der Kunst“.
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Wie frei ist die Kunst. Grafik: Jäger & Jäger
„Wie frei ist die Kunst?“ – Gesprächs- und Konzertreihe des Ensemble Modern in Frankfurt und Köln
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verbürgt in Artikel 5,3: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Dennoch gab es in den vergangenen Jahren vermehrt Einflussnahmen auf Kunst, Kultur und Musik durch staatliche Vorgaben, Ausschlusskriterien, Cancel Culture, Boykottaufrufe sowie Pläne öffentlicher Fördergeber, potenziellen Fördernehmenden Selbstverpflichtungserklärungen gegen Antisemitismus und für Diversität und Gleichstellung abzuverlangen. Rücksichtslos nimmt inzwischen der russische Präsident die Kultur und Kulturschaffenden seines Herrschaftsbereichs in den Dienst. Der US-Präsident schickt die patriotischen Kino-Veteranen Sylvester Stallone und Mel Gibson als nationale Beauftragte in die kalifornische Filmbranche, „to make Hollywood great again“, und reißt kurzerhand die Leitung des New Yorker Lincoln-Centers für Musik, Theater, Tanz, Film und Oper an sich, um fortan selbst zu bestimmen, was diese Einrichtung präsentieren soll und vor allem, was nicht.
Die Freiheit der Kunst wird von vielen Seiten bedroht. Davon handeln inzwischen immer mehr Artikel, Ansprachen und Diskussionsrunden. Der Deutsche Kulturrat brachte 2024 das gut dreihundertseitige Buch „Kunstfreiheit – Zehn Jahre Debatten in Politik & Kultur“ mit zahlreichen Stellungnahmen heraus. Die jüngste Folge 9 der verbandseigenen Online-Debattenplattform vom 20. Februar 2025 ist noch immer unter „JaAberUnd #9: Kunstfreiheit“ nachzusehen.
Aktuell greifen das Thema auch zwei bestimmte Veranstalter und Auftraggeber von Musik auf, nämlich das 1980 gegründete Spitzenensemble für neue Musik Ensemble Modern sowie die Betreibergesellschaft KölnMusik der Kölner Philharmonie und des Festivals „ACHT BRÜCKEN | Musik für Köln“. Bis Mai finden in Frankfurt sowie in Köln vor und während ACHT BRÜCKEN insgesamt sechs Gespräche samt Kurzkonzerten „Wie frei ist die Kunst?“ statt. Dieselbe Frage stellten sich schon die idealistische und kritische Philosophie des 18. bis 20. Jahrhunderts sowie jüngst wieder der Kunst- und Architekturkritiker Hanno Rauterberg 2018 in seinem gleichnamigen Buch. Thematisch spezifiziert finden je zwei Veranstaltungen mit Vertreterinnen und Vertretern von Ensembles, Veranstaltern und Komponierenden statt. Alle Gespräche moderiert die SWR-Redakteurin Leonie Reineke. Die sehr gut besuchte erste Ausgabe im Stiftersaal des Kölner Wallraf-Richartz-Museums brachte die Geschäftsführerin des Ensemble Recherche Boglárka Pecze mit dem künstlerischen Manager und Geschäftsführer des Ensemble Modern Christian Fausch zusammen.
Wie frei sind Ensembles?
Beide Ensembles versuchen Freiheit durch eine basisdemokratische Organisationsstruktur zu realisieren. Die Ensemblemitglieder entscheiden gemeinsam und tragen zusammen die wirtschaftliche und künstlerische Verantwortung. Zudem müssen sie immer wieder neu einen Konsens über Ausrichtung, Profil, Programme und die Vergabe von Kompositionsaufträgen erzielen. Neu komponierte Stücke werden dann gewissenhaft erarbeitet und so gut wie möglich aufgeführt, selbst wenn nicht alle im Ensemble gleichermaßen von der Qualität eines Werks überzeugt sind. Das gilt auch für dezidiert politische Stücke wie etwa Iris ter Schiphorsts Hommage an den Whistleblower Julian „Assange – Fragmente einer Unzeit“ (2019), die im Anschluss an das Gespräch neben Tania Rubios „The Language of Water“ und Vladimir Tarnopolskis „Last and Lost“ vom Ensemble Modern unter Leitung von Xizi Wang aufgeführte wurde.
Indem das Ensemble (Modern) ein solch politisch provokantes Stück aufführt, macht es sich – so Christian Fausch – nicht automatisch die Haltung der Komponistin oder des Werks zu Eigen, sondern stellt dies dem Publikum lediglich zur Diskussion. Boglárka Pecze erläuterte diese Trennung durch den Vergleich mit einem Schauspieler, der für die Dauer der Aufführung eine bestimmte Rolle verkörpert, aber weder die dargestellte Figur selber ist noch deren Intentionen teilt. Welche Folgen ein Kompositionsauftrag unter Umständen haben kann, erläuterte Pecze am Beispiel einer aus Südafrika stammenden Komponistin, die das Ensemble Recherche für das mit dem Goethe-Institut veranstaltete Projekt „Other Histories“ eingeladen hatte. Die Künstlerin forderte vom Ensemble zunächst einmal die Teilnahme an einem Anti-Diskriminierungs-Workshop und die Meditation mit einem Guru. Danach fuhr man gemeinsam in einen Baumarkt, um verschiedene Materialien zu besorgen und damit neue Instrumente zu bauen, auf denen das Ensemble dann die neue Komposition spielen zu lernen hatte.
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Von links, Leonie Reineke, Boglárka Pecze, Christian Fausch. Foto: Thomas Brill
Kritik an opportunistischen Wendehälsen und Konzernchefs
In den letzten Jahren stellte die Politik immer mehr moralische Erwartungen. Kunst und Kultur sollten sich um Diversität, Nachhaltigkeit, Wokeness, Postkolonialismus und Antirassismus kümmern. Fausch erinnerte daran, dass diese wichtigen Themen von der Trump-Administration gegenwärtig handstreichartig weggefegt werden, was nach den Ankündigungen im US-Präsidentschaftswahlkampf allerdings erwartbar war. Viel erstaunlicher fand Fausch dagegen, dass innerhalb weniger Tage auch in der freien Wirtschaft große Unternehmen und Internetkonzerne diese 180 Grad-Drehung mitvollziehen, als sei deren bislang um Antidiskriminierung, Gendergerechtigkeit und Gleichstellung bemühte Unternehmenskultur bloß eine pflichtschuldige Übung gegenüber einer intellektuellen Mode gewesen, die jetzt vorbei sei. Seine Kritik an opportunistischen Wendehälsen und Konzernchefs verband Fausch mit der Selbstkritik, dass Veranstalter und Ensembles die genannten gesellschaftlich wichtigen Themen in den letzten Jahren womöglich zu einseitig verfolgt hätten, was auf Kosten von Vielstimmigkeit und Diversität gegangen sei. Kunst sollte folglich weder gezwungen werden, aktuelle Zeitfragen zu behandeln, noch von politischer Einmischung ausgeschlossen werden, wie es gegenwärtig das von der AfD für Kunst- und Kultureinrichtungen geforderte Neutralitätsgebot verlangt.
Plädoyer für radikal neue Modelle
Neben dem Einsatz für Klimaschutz, Biodiversität und nachhaltiges Wirtschaften mit natürlichen Ressourcen braucht es laut Fausch auch „künstlerische Nachhaltigkeit“, nämlich die Möglichkeit, „mit langfristigen Perspektiven die neue Musik weiterentwickeln zu können, ohne ständig auf tagesaktuelle Themen und Fragen zu schielen“. Pecze unterstrich den Glauben an die Zukunft all derjenigen, die an der neuen Musik mitarbeiten und plädierte für „radikal neue Modelle“ und gegebenenfalls „total schockierende Projekte“. Als sie vor zwanzig Jahren aus Ungarn nach Deutschland kam, sei sie hierzulande immer wieder auf Bedenkenträger gestoßen, die ihre Ideen für unmöglich gehalten hätten, die dann aber dennoch gelungen seien. Auf die Frage von Leonie Reineke „Was braucht es, um die Freiheit der Kunst in Zukunft zu gewährleisten?“, wünschte sich Fausch, „dass wir alle wieder neugieriger auf Anderes und Andere werden und bei allem Trennenden aufeinander zugehen, alte Perspektiven verlassen und neue erfahren“. Und Pecze wünschte sich „in allen Städten und Gemeinden einen höheren Kulturhaushalt“. Denn wenn nach kapitalistischer Logik Zeit auch Geld ist, dann bedeutet umgekehrt Geld auch Zeit für künstlerische Forschung, Erprobung, Konzeption, Erarbeitung. Und fehlendes Geld, wie die soeben per Ratsbeschluss ab 2026 komplett gestrichene städtische Förderung für das Festival ACHT BRÜCKEN, schränkt die Freiheit von Musikveranstaltungen nicht nur ein, sondern macht sie gegebenenfalls überhaupt unmöglich.
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Wie frei ist die Kunst. Grafik: Jäger & Jäger
Frei von und zu
Die personelle Zusammenstellung der Gesprächsreihe des Ensemble Modern macht allerdings von vorneherein Kontroversen unwahrscheinlich, weil die jeweils gleichen berufsbedingten Perspektiven absehbar zu ähnlichen Einschätzungen führen. Dabei gibt es innerhalb der Szene der neuen Musik handfeste Interessenkonflikte, die sich unmittelbar auch auf die Freiheit von Ensembles auswirken. Beispielsweise verlangen Veranstalter und Festivals von Ensembles und Komponist:innen, dass sie vorgegebene Besetzungen, Raumdispositionen und Dauern praktisch einhalten sowie inhaltlich auf thematische Setzungen reagieren. Umgekehrt sind Veranstalter und Festivals angesichts schwindender Mittel von Rundfunkanstalten, kommunalen und staatlichen Kulturhaushalten zugleich darauf angewiesen, dass die eingeladenen Ensembles selbst Programme und Auftragswerke mitbringen, die wiederum potente Stiftungen mitfinanzieren, die ihrerseits eigene Kriterien und Vorlieben verfolgen. Nicht zur Sprache kamen im Kölner Gespräch auch die Vor- und Nachteile von festangestellten und freiberuflichen Musikschaffenden, die Freiheit sowohl ersticken als auch ermöglichen können.
Die Redewendung „Frei von und zu“ ist kein Adelsprädikat, sondern unterscheidet zwischen passiver und aktiver Freiheit. Die meisten freiberuflichen Ensembles sind passiv frei von institutionellen Hierarchien, starren Betriebsabläufen und programmlichen Vorgaben durch Intendanzen sowie frei von dauerhaften Strukturförderungen, geeigneten Proberäumen und personeller Unterstützung bei professionellem Management, Marketing, Terminplanung und Projektkoordination. Im Vergleich zu festangestellten Musikerinnen und Musikern sind sie auch frei von tariflich geregelten Arbeitszeiten, Bezahlungen und betrieblicher Sozialversicherung und Rentenvorsorge. Stattdessen sind sie aktiv frei zu selbstständiger Organisation, Profilbildung, Programmwahl, Dramaturgie, Bewerbung und Ausgestaltung der eigenen Veranstaltungen. Die Arbeitsweisen und Ergebnisse von freiberuflichen und festangestellten Musikschaffenden unterscheiden sich zwar, sind deswegen aber nicht pauschal als besser oder schlechter, freier oder unfreier zu werten. Denn bei den meist prekär beschäftigten Freiberuflern und den institutionell geschützten Musikschaffenden gibt es gleichermaßen Potentiale und Hemmnisse, die Freiheit fördern und einschränken, weil Geld sowohl Sicherheit und Mut zu Experiment und Provokation zu geben vermag als auch durch Erfolgszwang, Rechtfertigungsdruck und Kontrollmechanismen ausbremsen kann. Letztlich geht es hier wie dort sowohl um die passive Freiheit der Musikschaffenden von Geldnot, Routinen, Zwängen, Fremdbestimmung und Selbstzensur als auch um die aktive Freiheit zur flexiblen, eigeninitiativen und risikofreudigen Hervorbringung autonomer Musik, die das Publikum mit Ideen, Materialien, Formen, Schönheiten, Hoffnungen, Ängsten, Andersartigkeiten, Widerständen und gegebenenfalls auch Schocks konfrontiert, die jenseits von Parteibtagen, Plenarsaal, Presse und Politforen sowohl ganz andere als auch dieselben drängenden Fragen und Probleme einer Gesellschaft austrägt – wenngleich auf ganz eigene und ästhetisch freie Art und Weise.
Wie weiter?
Die Folgeveranstaltungen finden im Filmforum NRW in Köln statt: am 9. April „Wie frei sind Veranstaltende?“ mit dem Direktor des Museum Ludwig Yilmaz Dziewior und dem Intendanten der Kölner Philharmonie Louwrens Langevoort; und am 11. Mai „Wie frei sind Komponist:innen“ mit der Komponistin und Professorin an der HfMT Köln Brigitta Muntendorf und dem dortigen Kompositionsstudenten Unai Urkola Etxabe.
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