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Kurze Beratung der vier Aktiven im März 2012 mit dem Mentor: (v.l.n.r.) Haoran Li (China), Young Eun Hur (Korea), Mihhail Gerts (Estland), Antonio Méndez (Spanien), GMD Michael Helmrath. Foto: Michael Kirsten
Kurze Beratung der vier Aktiven im März 2012 mit dem Mentor: (v.l.n.r.) Haoran Li (China), Young Eun Hur (Korea), Mihhail Gerts (Estland), Antonio Méndez (Spanien), GMD Michael Helmrath. Foto: Michael Kirsten
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Wie Himmel und Hölle zugleich

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Zehn Jahre Dirigenten-Werkstatt INTERAKTION mit dem Kritischen Orchester
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Wo gibt es das schon – ein hochkarätiges Orchester, das nur einmal im Jahr für wenige Tage in Aktion tritt, ohne jedoch ein Konzert zu spielen? Am ers- ten Geigenpult rotieren aktive und pensionierte Erste Konzertmeister aus Spitzenorchestern, qualitativ entsprechend besetzt sind alle Streichergruppen, in der Holz- wie der Blechgruppe sitzen renommierte Hochschullehrer und Solobläser neben Akademisten, die, man kann es hören, auch bald in Oberliga-Ensembles verpflichtet sein werden. Tatsächlich bereits zum zehnten Mal, freilich in immer wieder wechselnder Besetzung, fand sich das „Kritische Orchester“ Anfang März in der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ zusammen. Einziger Zweck der Übung war und ist die Förderung junger Dirigent/-innen.

2001 entwarf Klaus Harnisch, der seit 1982 ein Förderprogramm für junge Dirigenten in der DDR betreut und nach der Vereinigung das Dirigenten-Forum des Deutschen Musikrates initiiert hatte, noch ein weiteres Modell der Förderung des Dirigenten-Nachwuchses. Er hatte richtig erkannt, dass eine für den Erfolg des Kapellmeisters entscheidende Klippe – neben Partiturkenntnis und Schlagtechnik – in seinem oder ihrem Umgang mit dem Orchester besteht. Über diese Klippe aber könnten, so erkannte er, besser noch als beobachtende Dirigierlehrer oder Mentoren in herkömmlichen Meisterkursen, erfahrene Musiker im Orchester jungen Dirigenten in flagranti, nämlich unmittelbar bei der Probenarbeit, hinweghelfen, indem sie ihnen, gewissermaßen bei laufendem Motor, ganz konkret ihre Fehler, Schwächen oder Mängel in der Kommunikation verdeutlichten. 

Entschiedene Mitstreiter fand Harnisch in Persönlichkeiten wie Christhard Gössling, seinerzeit Rektor der Berliner HfM „Hanns Eisler“, zugleich Solo-Posaunist der Berliner Philharmoniker, oder deren langjährigem Erster Konzertmeister Leon Spierer, auch dem damals gerade an die Hochschule berufenen Professor für Dirigieren, Christian Ehwald. So waren wichtige Voraussetzungen für die Realisierung der neuen Dirigenten-Werkstatt gegeben – nur die wichtigste noch nicht: das Orchester. Harnischs Idee war es, einzelne Musiker zu finden, die sich der Aufgabe eines solchen Dirigentenwerkstatt-Ensembles unterziehen würden, aus Überzeugung und nicht durch Orchesterdienst verpflichtet, um der Sache willen, aber ohne Vergütung. Auch das gelang, indem sich von Anfang an aktive wie ehemalige Mitglieder aller Berliner sowie zahlreicher weiterer großer deutscher Orchester, Professor/-innen deutscher Hochschulen und freiberuflich Tätige zur Verfügung stellten, nicht wenige inzwischen Jahr für Jahr. So konnte es 2002 losgehen – mit dem Kritischen Orchester und zunächst noch sechs jungen Dirigenten. Die Ausschreibung erfolgte anfangs über die deutschen Musikhochschulen, den Deutschen Musikrat und die Zeitschrift „Das Orchester“, bald auch international und inzwischen über die eigene Homepage www.dirigentenwerkstattinteraktion.de. 

Für den dreitägigen Kurs hat sich die Anzahl von vier aktiven Teilnehmern als optimal erwiesen. Die um mehr als das Zehnfache größere Zahl von Bewerbungen wird von einer Jury anhand von Video-Aufnahmen gesichtet, acht Kandidaten werden zum Auswahldirigieren mit den Brandenburger Symphonikern eingeladen und wiederum von einer Jury begutachtet. Für die zehnte INTERAKTION qualifizierten sich schließlich vier Studierende deutscher Musikhochschulen, und zwar aus Estland, China, Spanien und Süd-Korea, also kein Deutscher darunter. Das jährlich wechselnde Arbeitsprogramm umfasste in diesem Jahr Ouvertüren und symphonische Sätze von Beethoven, Johann Strauß, Debussy, Sibelius sowie erstmals eine Novität – „Variationen“ von Josep Planells Schiaffino.

Bereits in den Eröffnungstakten der Coriolan-Ouvertüre zeigt sich deutlich, wie die jungen Dirigenten – eine Dame, drei Herren – mit der Partitur und mit dem Orchester umgehen. Bald schon gibt es die ersten Hinweise von „unten“: „Im forte erkennt man Ihre innere Bewegung, beim piano zeigen Sie nur, dass es leise sein soll.“ ... Dirigent: „Könnten Sie hier etwas mehr...“ aus dem Orchester: „Zeigen Sie das einfach!“ ... „Sie dirigieren zu viel, machen Sie hier das Ihnen Wesentliche deutlich!“ ... „Diesen Einsatz brauchen die Hörner, nicht, weil er für sie schwierig, sondern weil die Stelle musikalisch wichtig ist.“ 

Und immer wieder: „Dies korrekt zu spielen ist nicht schwer, aber inspirieren Sie uns!“ Jörg-Peter Weigle, in den letzten vier Jahren Rektor der gastgebenden Hochschule, in seinem Grußwort: „Das Projekt will und soll kein ‚Dirigierunterricht’ im herkömmlichen Sinne sein. Es leistet Hilfestellung für den professionellen Umgang miteinander und ...hilft jungen Dirigenten, Verantwortung zu erkennen, wo sie sie bisher noch nicht ausgeübt haben.“ Mit Michael Helmrath, langjähriger Solo-Oboist der Münchner Philharmoniker, seit 2003 GMD der Brandenburger Symphoniker und gefragter Gastdirigent, wurde genau der richtige Mentor gefunden, der, auf der Basis großer Erfahrung beiderseits, mit wenigen Worten verdeutlicht, worauf es ankommt: „Haben Sie keine Angst vor den Musikern, sehen Sie sie fest an. Vermitteln Sie, was Sie beim Musizieren bewegt und nehmen Sie die Signale auf, die Ihnen aus dem Orchester entgegen kommen.“ – Die erkennbare Entwicklung vieler Teilnehmer im Verlauf des äußerst intensiven Wochenendkurses zeigt, nunmehr seit zehn Jahren, dass der beträchtliche Aufwand und das Engagement der kritischen Orchestermusiker sich lohnen. Nicht zuletzt die Kommentare der Nachwuchs-Dirigenten bestätigen das: „Manche Musiker haben mich auf Gedanken gebracht, auf die ich von selbst nie gekommen wäre und an die ich mich täglich erinnere.“ „Mit dem Kritischen Orchester arbeiten zu können, die Kritik anzunehmen und sofort umzusetzen war wie Himmel und Hölle zugleich.“  „Das war einfach toll! Eine der sinnvollsten Veranstaltungen der Welt!“ 

Dem soll denn auch nichts weiter hinzugefügt werden.

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