Das gab es schon lange nicht mehr, große Schlangen vor der Abendkasse und nicht enden wollende Ovationen bei der bedeutenden und immer wieder aus Abstürzen in neue Höhenlagen sich aufschwingenden musica viva des Bayerischen Rundfunks. Karl Amadeus Hartmann hat sie im offenen und offensiven Nachkriegs-München zwischen Trümmern und Bombenresten initiiert, inmitten geistiger Aufbruchsstimmung. Später waren unter anderem Wolfgang Fortner, Ulrich Dibelius, Jürgen Meyer-Josten, Josef Anton Riedl und Udo Zimmermann programmatisch (mit)prägende Köpfe.
Seit 2010 Zeit dirigiert Winrich Hopp die Programminhalte. Und setzt weiter auf Aufklärung. Das beschert der Reihe ungeahnten Publikumszuspruch. Und es sind dann nicht mehr nur die Renner wie Boulez-Specials, Stockhausens dreigliedriges Samstag-aus-Licht-Ereignis oder jetzt etwa ein musica-viva-Wochenende. Denn auf der Suche nach neuem Publikum, gerade auch in ungewohnten Umgebungen, wächst die musica viva wie eine Krake konzentrisch in die Kernstadt hinein. Ausgehend vom traditionsreichen Herkulessaal in der Residenz in Örtlichkeiten, die dem jeweiligen Programm auratische oder historische oder denkerische Akzente hinzufügen. Die jesuitische Sankt Michaels Kirche etwa zum Stockhausen-Finale, andere Sakralräume, ihrer sakralen Widmung entbundene Räume. Oder Wachstum exzentrisch: Vielleicht wandert die musica viva einmal durch die Clubs der Innenstadt, um dann gar in den Relikten des ehemaligen Kunstparks Ost zu gastieren, in einem architektonisch und inhaltlich aufstrebenden Neu-und-Umbaugebiet am Ostbahnhof voll ambitionierten Anspruchs, mit ausgeprägtem Medien-Appeal.
Die Stamm-Mannschaft der musica-viva-Besucher jedenfalls wird größer, es sind nicht mehr nur die treuesten der treuen Gesichter zu sehen. Da kommen mittlerweile auch Jüngere und Jüngste. Zentral für dieses aktuelle musica-viva-Wochenende stand der siebzigste Geburtstag von Peter Eötvös, großer Charismatiker und zentraler Verbindungsmann von Stockhausen zu Boulez und zurück. Mit eigener Sinnlichkeit und Gedankenklarheit allerdings. Die wesentlichen Schaltstellen der Musik nach dem Zweiten Weltkrieg haben meis-tens auch mit dem denkenden Sinnlichen aus Ungarn zu tun. Hier in München war ihm nun eine prachtvolle Bühne geboten, mit dem prachtvollen Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, mit der prachtvollen, einzigartigen, wundervollen Geigerin Patricia Kopatchinskaja – und mit Eötvös selbst am Pult. Und mit Wolfgang Rihm im vollen Saal. Und Helmut Lachenmann auf der Bühne.
Rihms „In-Schrift 2“ vom Jahr 2013 brachte in ihrer wuchtigen, filigranen, gewaltigen, sensiblen Diktion Bruckner-Rückschlüsse und -Nachklänge in Einklang mit den Tiefen der Jetztzeit, mit dem Sog auf Katastrophisches hin, in den Raum der Schrecklichkeiten hinein. Aus dem heraus der Komponist immerhin Wege der Hoffnung ahnen lässt. Klang begreift er als mehrschichtig. Bei „In-Schrift 1“ ist das dezidiert auf San Marco in Venedig ausgerichtet, aktuell auf den Schuhkarton des Herkulessaals, mit sechs A-Klarinettenspielern, die samt drei Schlagzeugern im Saal und über die Galerie verteilt sind.
Wenn Patricia Kopatchinskaja auf die Bühne kommt, Geige und Bogen hoch über dem Kopf haltend, barfuß und von langem, weiß wallendem Gewand umwogt, dann raunt sich Erwartungsvolles zusammen. Eötvös’ zweites Violinkonzert ist ein Auftragswerk der Los Angeles Philharmonic, des Gewandhauses Leipzig und der BBC London. Vor einem Jahr wurde es in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles uraufgeführt – mit Midori als Solistin. Insofern erschließt sich der Titel „DoReMi“. Doch Eötvös setzt nicht nur aufs Emotionale. Er erdenkt sich eine Reflektion, eine Kommunikation über divergierende Musiksysteme, das tonale westliche, um den Grundton Do changierende und das pentatonisch-östliche mit dem Zentrum Mi. Helmut Lachenmanns „‚...zwei Gefühle...‘, Musik mit Leonardo“ dagegen ist in der Grundstruktur zunächst dermaßen abstrakt, dass das alles als pur denkbare Musik möglich erscheint. Doch wenn der Meister selbst das Gefühl des unruhigen Suchens, jenes „Gefühl der Unwissenheit“, inmitten der Instrumentalisten mit sonorer Stimme in Gestalt des Leonardo-da-Vinci-Textes aufklingen lässt, dann sind mit dem archaischen Musikgeflecht die Gefühle Furcht und Verlangen umschrieben, Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle. Dieses Zauberhaft-Rätselhafte fasziniert durch die Aura des vortragenden Komponisten ebenso wie durch die historisch belegte Erinnerung an Luigi Nono, an dessen Haus auf Sardinien, wo dieses Stück entstand. Und von hier aus ergibt sich die konkrete Verbindung zum Dirigenten des Abends, der die Uraufführung im Oktober 1992 in Stuttgart geleitet hatte.
Den Auftakt für dieses Wochenende voller Klanglandschaften, markierte ein Abend mit Beat Furrer in der Muffathalle, mit ihm am Pult des einstens von ihm initiierten österreichischen Flaggschiffs für zeitgenössische Musik, jenes Klangforums Wien, das jetzt zum ersten Mal bei der musica viva gastierte. Der Titel „Sabbia“ von Aureliano Cattaneo (*1974), lässt immerhin vieles fürs Visionäre, Offene hören, für das imaginierende Denken, für eine stille, subtile Poesie. Die Uraufführung der kleinen Variante des großen Violinkonzerts vom selben Aureliano Cattaneo erkämpfte sich ihr Recht auf Klang in der Fassung für Violine und Ensemble (ein Auftrag der musica viva und des Klangforums Wien). Das Konzert huldigt zwar auch dem Prinzip des concertare, es reflektiert aber auch die Frage, wie das Spannungsfeld zwischen solistischem Spiel, kammermusikalischer Haltung und purer Orchestermusik zu organisieren ist. Vergleichbar nur für den, der beide Versionen kennt. Der Diskurs zwischen Solo und Ensemble aber war seinerseits so spannend, dass die Frage nach der Semantik sich gar nicht erst stellte (im Solo eine fulminante Sophie Schafleitner).
Der durch ästhetisch herausragende Körpersprache faszinierende Dirigent Furrer verzauberte nun vollends mit einer weiteren Auftragskomposition der musica viva (mit Klangforum Wien und der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia) und zwar mit seinen „Canti della tenebra“ auf Texte von Dino Campana. Und wer die nicht zuvor gelesen hatte, der fühlte sich dennoch nicht verloren. Diese Musik, wie so oft an diesem Wochenende zwischen Dur-und-Moll-Haltungen pendelnd, war packend, strukturstark und sinnlich, immer aufs Neue dem abwärts weisenden Sog neuen Auftrieb gebend. Da ließ sich Musik auch ohne umfängliche Vorinformation aus sich heraus verstehen, erleben. Nicht zuletzt wegen der wunderbar mit dem Instrumentalensemble ineins klingenden Mezzosopranistin Tora Augestad.
Vergleichbar konstruktiv erwiesen sich am Sonntag um elf in der Muffathalle der Türke Atac Sezer (*1979) und der Tscheche Martin Smolka (*1959), jeweils mit einer Auftragsarbeit für die musica viva. Ihren Erfolg verdanken sie nicht zuletzt schier unglaublichen Mitgliedern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Während Sezer aus zwei Streichtrios ein partiell zum Sextett zusammenwachsendes Geflecht komponiert und so in fein gewebter Manier Nähe und Ferne, räumlich gedacht, jeweils aufeinander zulaufen lässt, liefert Smolka minimalistisch agierend einen meditativen Klangfluss mit Assoziationsoffenheit in spirituelle Bereiche hinein.
Das war insgesamt ein Wochenende auf der Höhe der Zeit, als dessen Gipfel „Seven – Memorial for the Columbia Astronauts“ von Peter Eötvös unter dessen Leitung gelten kann. Was da an Magie von absoluter Musik ausging, als die „Seven“ ja auch verstanden sein kann, ist schon stark. Die Geschichte der sieben Astronauten, die damals, im Februar 2003, ums Leben kamen, bei der Rückkehr aus dem All, kurz vor der Landung auf der Erde, wird von der Partitur ungemein intensiv vertieft. Pierre Boulez hatte 2007 in Luzern die Uraufführung dirigiert. Die BR-Symphoniker, Patricia Kopatchin-skaja und der Komponist hatten jetzt hier in München – neben all den sensiblen, feinen, schrillen, lauten, wilden, leisen, brutalen, zarten Tönen – einen Klangkunstfelsen in die Brandung gestellt.