Harry Vogt, Redakteur für Neue Musik beim Westdeutschen Rundfunk und Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik, drängte sich im Vorfeld der Programmgestaltung für 2001 eine nicht ganz uninteressante Frage auf: Häufen sich Kompositionen, in denen Fremdkörper, Hindernisse und Widerstände bewusst eingebaut sind? Und das ausgerechnet in der Neuen Musik, einem Genre, das doch oft genug selbst als Fremdkörper wahrgenommen wird? Die Wittener Kammermusiktage 2001 versuchten, das Thema mannigfach zu umkreisen, Perspektiven aufzuzeigen, in neuen – und älteren – Werken die weit gespannte Fragestellung zu spiegeln. Gehört auch die Erinnerung zu den „Fremdkörpern“, das bewegte Filmbild? Die Installation oder vielleicht sogar, wie Vogt mutmaßt, ein „Dur-Akkord, eine schlichte Melodie, ein sentimentaler Klang“? – in der Neuen Musik durchaus als „Fremdkörper“ zu erfahren.
Harry Vogt, Redakteur für Neue Musik beim Westdeutschen Rundfunk und Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik, drängte sich im Vorfeld der Programmgestaltung für 2001 eine nicht ganz uninteressante Frage auf: Häufen sich Kompositionen, in denen Fremdkörper, Hindernisse und Widerstände bewusst eingebaut sind? Und das ausgerechnet in der Neuen Musik, einem Genre, das doch oft genug selbst als Fremdkörper wahrgenommen wird? Die Wittener Kammermusiktage 2001 versuchten, das Thema mannigfach zu umkreisen, Perspektiven aufzuzeigen, in neuen – und älteren – Werken die weit gespannte Fragestellung zu spiegeln. Gehört auch die Erinnerung zu den „Fremdkörpern“, das bewegte Filmbild? Die Installation oder vielleicht sogar, wie Vogt mutmaßt, ein „Dur-Akkord, eine schlichte Melodie, ein sentimentaler Klang“? – in der Neuen Musik durchaus als „Fremdkörper“ zu erfahren.Im Zentrum der sechs Wittener Konzert-Programme stand ein Rückblick. Unbekanntes und wenig Bekanntes von Morton Feldman, das in seinem Nachlass in der Paul-Sacher-Stiftung in Basel aufgefunden wurde, darunter eine faszinierende Hommage „For Franz Kline“, gesetzt für Horn, Röhrenglocken, Klavier, Sopran, Violine und Cello. Feldmans Affinität zur Malerei ist bekannt. Anfang der 50er-Jahre drehte Hans Namuth einen Film über den Action-Maler Jackson Pollock, zu dem Feldman die Musik für zwei Celli komponierte. Der Film zeigt, dass Pollocks Spontaneität beim Malen aus einem fast strengen, ritualisierten Bewegungsablauf erwuchs. Die am Boden liegende Leinwand wird vom Maler immer wieder umschritten. Feldman heftete sein Karo-Papier an die Wand, jedes Blatt entsprach einer identischen Zeitdauer. In dieser Parallelisierung der Zeitverläufe ähneln sich Mal- und Komponiervorgang. Erstaunlich auch, wie komponierte Gesten auf Pollocks Mal-Gesten reagieren. Auf den ersten Hör- wie Augen-Blick würde man nicht vermuten, dass zwischen Pollocks Malerei und Feldmans Musik eine Korrespondenz bestehen könnte. Diese liegt in der Struktur des Entstehens gleichsam verborgen. Namuths Film bringt das eindringlich zur Anschauung. Die Cellisten Lucas Fels und Thomas Moster vom Freiburger Ensemble Recherche spielen Feldmans Partitur perfekt auf das bewegte Bild zu.Eine ähnliche Raffinesse wie beim Pollock-Film besitzt Feldmans Musik für Namuths Filmporträt über den Maler Willem de Kooning (1966). Feldman hat die Musik auch zur freien Aufführung zugelassen, ein Zeichen ihrer autonomen Qualitäten, die sich auch bei den Filmmusiken für „Samoa“ (1968) oder „Something Wild In The City“ zeigt. In einem Festival für Neue Musik, das in der Regel nur mit Uraufführungen aufwartet, kann der „Rückgriff“ auf das „Große von gestern“ zwar nicht unbedingt als „Fremdkörper“, aber doch als „Widerstand“ funktionieren: als Maßstab, an dem sich das Aktuelle zu reiben vermag.
Fremdkörper, Widerstände: Marco Stroppa fügt in seiner „Cantilena“ für dreifach geteilten gemischten Chor (WDR Rundfunkchor unter Roland Peelman) zwischen die einzelnen „Cantilenen“ auf ein Gedicht der Italienerin Amelia Rosselini exotische Klänge und Gesänge ein, die aber nicht wie Zitate wirken, vielmehr mit der komplexen Struktur der Komposition eng verknüpft erscheinen: ein faszinierendes Klang-Ereignis. Im selben Konzert gab es weitere Uraufführungen von Nadir Vassena und Johannes Maria Staud. Der 1970 geborene Nadir Vassena schrieb „5 nodi grotteschi e crudeli“ für Akkordeon und Ensemble (Teodoro Anzellotti mit dem Collegium Novum Zürich unter Jürg Wyttenbach): Der Titel – übersetzt: „Fünf groteske und grausame Knoten“ – verweist schon auf einen eher spielerischen, unterhaltsamen Charakter der Komposition, die gleichwohl etwas von der Verführbarkeit eines Vexierbildes besitzt: Wo ist der tiefere Sinn verborgen? Das Stück gefällt durch seine gelöste Gestik und feine Transparenz im Klanglichen. Johannes Maria Staud (1974 in Innsbruck geboren) stieß bei der Suche nach einer für eine Chorkomposition geeigneten Vorlage auf die „visuellen Texte“ von Heinz Gappmayr. Dessen „Verbildlichungen“ und „Versinnlichungen“ von Raum-Zeit-Strukturen versucht Staud musikalisch zu „übersetzen“, ein nicht unkompliziertes Verfahren, was sich schon im langen Titel andeutet: „der kleinste abstand zwischen zwei gegenständen“ – komponiert für sechzehnstimmigen gemischten Chor a capella (auch hier der WDR Rundfunkchor Köln). Stauds Acht-Minuten-Werk „kombiniert“ in bemerkenswerter Dichte Geräuschhaftes und klar Artikuliertes, leitet aus den „Worttafeln“ Gappmayrs eigenständige kom-positorische Anordnungen ab. Bei aller Komplexität und Assoziationsvielfalt gewinnt Stauds Chorstück zugleich eine unmittelbare Ausdruckskraft: Der „Fremdkörper“ der „visuellen Texte“ wird geradezu geschmeidig von Musik integriert.
Assoziationen an Techniken in der bildenden Kunst erwecken Werke von Thomas Meadowcroft und Andreas Dohmen. Meadowcrofts „Ground Manual“ für Flöte, Oboe, Klarinette, Cello, Harmonium/Klavier und Schlagzeug operiert leicht spekulativ mit den Wortbedeutungen des Titels: Malen, Manual, Handarbeit. Ein Maler macht sich Notizen über die Oberflächenbeschaffenheit der Materialien, die er bearbeitet. Das Verfahren lässt sich entsprechend auf den Komponiervorgang übertragen. Das Klangergebnis hinterlässt trotz der vielfältigen Assoziationen einen geschlossenen Eindruck. Auch Andreas Dohmens „Frottages“ für Ensemble überzeugt durch die Dichte der komponierten Struktur, in der verschiedene musikalische „Zustände“, wie bei der Frottage-Technik in der Malerei, gleichsam „durchgerieben“ werden. Was den Wittener Kammermusiktagen sehr gut gelungen ist: Die Integration der Klanginstallationen und Performances in das musikalische Konzept. So werden beispielsweise die Klangerzeugungen von Volker Staubs „Witterungsinstrumenten“ (sie befinden sich in und an einem Baum hängend im Park vor dem Haus Witten) dem „Quartett für Metalltrommeln Nr. 41“ desselben Komponisten zugespielt, das im Haus aufgeführt wird. Die Simultanität führt zu aparten Klangkorrespondenzen, zumal das Schlagquartett Köln auf den Metalltrommeln virtuos zu agieren versteht.
In ausgefeilter Balance präsentierten sich auch „Drei Spiele“ von Manos Tsangaris, ebenfalls im Haus Witten in drei Räumen aufgebaut. Tsangaris, ein fantasievoller Spieler, wird nicht müde, immer neue kleine und noch kleinere Klang-Spiel-Aktionen zu erfinden. Diesmal spielen Fäden eine wichtige Rolle, an denen der Zuschauer ziehen kann, womit bestimmte klingende, Kugelrollende und andere Vorgänge ausgelöst werden. Tsangaris „verführt“ sein Publikum gern zu Ruhe, Besinnung, Konzentration, zum Hinhören auf feinste Klänge, zu spielerischer Heiterkeit und höherem Spaß.
Wenn der Begriff „Fremdkörper“ thematisch zum Zentrum eines Musik-Programms erhoben wird, dann könnte natürlich schnell Ausuferung drohen: Alles was irgendwie in der Gegend herumsteht, wird Teil des Programms. Wie der große grünfarbene Container, der schon vor offiziellem Beginn der Wittener Musiktage unübersehbar den Platz vor dem Bahnhofsportal dominierte. Der Amerikaner Bruce Odland und der Österreicher Sam Auinger erkunden außerhalb des Containers, der den Titel „Box 30/70“ führt, mittels Mikrofon und Kamera, die sich versteckt in außen angebrachten Rohren befinden, das urbane Umfeld. Die Geräusche und Bilder werden dann in die „Box“ übertragen, wo sie der Besucher verfremdet, umgeformt, in neuen Zusammenhängen erfahren kann. Die Klang-und Bildzeichen entfalten dabei im dunklen, nur von einem Bildschirm, winzigen grafischen Anzeigetafeln für die akustischen Schwingungsverläufe und einem Mini-Fenster gering erleuchteten Raum eine eigene „Stimmung“. Man nimmt die Bilder und Zeichen konzentrierter als „normal“ wahr, achtet auf Veränderungen und Wiederholungen: Eine Schule auch des Hörens und Sehens. Die bewusste Wahrnehmung erfordert natürlich eine längere Verweildauer in der „Box“, mit einem schnellen „Hineinschauen“ ist es nicht getan. Die „Box“-Klanginstallation, von der „singuhr-hörgalerie in parochial“ und vom Siemens-Kulturprogramm produziert, wird später auch in anderen Städten zu besichtigen sein.
Als „Fremdkörper“ bei den diesjährigen Wittener Musiktagen durfte man, natürlich nur in ironischer Bedeutung, den „Einbruch“ junger Schweizer Komponisten betrachten: Mischa Käsers „Two Carpets“ („Flickenteppich“) verweist schon mit dem Titel auf eine locker geknüpfte formale Anlage. Der zweite Teppich bezieht sich als „Teppich der Erinnerung“ auf ein Bild Paul Klees, bei dem sich der Komponist neben Sylvia Nopper und dem Collegium Novum Zürich unter Jürg Wyttenbach auch als virtuos-komischer Rezitator vorstellte: witzig und auch ein wenig sehr schweizerisch. Anspruchsvoller und geistvoll-stilisierter präsentierte sich „die sprunghafte erweiterung des wortschatzes“ der Schweizerin Annette Schmucki, eine fast equilibristisch ablaufende Sprach- und Sprechpartitur für Stimme, Posaune, Akkordeon und Schlagzeug.
Inmitten der „Fremdkörper“-Komponisten, Widerständler und Hinderniserfinder fand sich schließlich mit Hans Zender auch ein Komponist ein, dessen Widerstand schon denkmalsreif sein könnte, so groß und überdimensional wirkt dieser. Mit dem Arditti String Quartet und Salome Kammer als „Stimme“ gab es eine neue „Hölderlin“-Ersteigung: „Mnemosyne – Hölderlin lesen IV“ für Frauenstimme, Streichquartett, Textprojektion und Zuspielbänder. Auch Zender erweitert seine Ausdrucksmittel. „Mnemosyne“, auf den vollständigen Text des Gedichts komponiert, fragt mit dem Dichter nach den „Zeichen“ und den Bedeutungen, welche diese für uns heute haben könnten. Zenders Komposition, die gegen Ende der Sprechstimme sogar den Gesang gestattet – als Zeichen höchster Intensität des Befragens –, erscheint als grandioser Versuch, die Verschlüsselungen des Hölderlin-Textes musikalisch zu übersetzen und auszudeuten. Ist das überhaupt möglich? Fragen, Zweifel bleiben. Gleichwohl: „Hölderlin lesen IV“ ist ein beeindruckendes Zeugnis auch für den „Widerstand“, den Kunst in unserer Zeit gegen ihre eigenen Tendenzen zu leisten vermag.
Fremdkörper, Widerstände, Hindernisse – gehören auch Erinnerungen bei einem Festival für neue Musik zu den Störfaktoren? „Witten Playback“ nennt Dieter Kovacic sein Zwanzig-Minuten-Stück, bei dem er, virtuos wie Rastelli, mit Vinylschallplatten als Material und Plattenspielern als Instrument hantiert. Was aber hört man? Musik, Klänge von Werken, die in den zurückliegenden Jahren in Witten gespielt wurden. Für seine Rückgriffe ins Schallarchiv der Kammermusiktage legte sich Dieter Kovacic zugleich einen sinnstiftenden Namen zu: Dieb. Und weil ein einmaliger Dieb keinen Effekt macht, wird noch eine Ziffer angefügt: „Dieb 13“. Dieb Nummer 13 legt nun nicht einfach nur Schallplatten auf wie ein Discjockey, die Auflagetechnik selbst avanciert zur Kunst des Komponierens, ebenso wie die Technik sinnstiftender Assoziationen. „Witten Playback“ wird zu einer Art „Teppich der Erinnerung“, nur artistischer als bei Mischa Käser. Und weil man gerade beim Erinnern ist: Erinnert wurde in Witten auch an Rebecca Saunders’ 1999 in Köln uraufgeführtes Stück „dichreoic seventeen“ für Akkordeon, E-Gitarre, Klavier, zwei Schlagzeuger, Violoncello und zwei Kontrabässe, ein Werk, das seine Qualitäten aus der reichen Klang-Farben-Fantasie der Komponistin gewinnt.
Die „Stille“ zählt wohl nicht zu den Störfaktoren in der Musik, sie ist vielmehr ein konstituierendes Element. Der Komponist greift in seinem Stück „...ALS...“ ganz tief in die Zeit zurück, in die Offenbarung des Johannes in der Übersetzung Luthers. Dort wird berichtet, wie beim Auftritt des Lammes eine „Stille im Himmel“ entstand, die eine halbe Stunde währte. Diese Stille möchte André in Musik „darstellen“, als Instrumentarium diente ihm ein Trio aus Bassklarinette, Violoncello und Klavier. Es entstand eine Musik, die auch in den Momenten ihres Erklingens eher einem unhörbaren Lauschen nach Innen gleicht, verstummenden Klängen von leiser, intensiver Beredtheit. Nonos „Stille“ scheint wie von fern auf, aber auch Hans Zenders Hineinhorchen in die Geheimnisse Hölderlins gleicht dieser Faszination des Leisen. Die Wittener Kammermusiktage 2001 demonst-rierten nicht nur „Fremdkörper“, sie verwiesen auch auf das Existenzielle in der Musik. Das ist in dieser Zeit vielleicht das Wichtigste, was Musik für Menschen zu leisten vermag.