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Schonungslos ehrlich: Igor Levit. Foto: Heidelberger Frühling/studio visuell

Schonungslos ehrlich: Igor Levit. Foto: Heidelberger Frühling/studio visuell

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Wie sich in Musik das Leben vermittelt

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Igor Levit gab ein Musikschul-Konzert in Heidelberg
Vorspann / Teaser

In jedem Konzert ergibt sich eine besondere Atmosphäre, in die Musik uns hineinlocken will. So war es auch in der vollbesetzten Städtischen Sing- und Musikschule Heidelberg, als Igor Levit die Fantasien op. 116 von Johannes Brahms staunenden Kindern vortrug: Geplant war ein Gesprächskonzert im gewohnten Szenario, wo junge Menschen aus ihrem schulischen Lebensstrudel herausgerissen werden, um dann wie üblich die wohlfeil gelernten Fragen zu stellen, mit denen sich ein sich ehrfurchtsvoll zeigendes junges Publikum vor dem großen Künstler zu verbeugen hat: „Warum haben Sie diese Stücke ausgewählt? Wie viel üben Sie? Haben Sie schon mal komponiert?“ 

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Für Igor Levit bildete dies einen Gesprächsanlass, seine Antworten ins Leben zurückzuspielen, in sein eigenes und in das der Schülerinnen und Schüler, in denen die Musik von Johannes Brahms noch nachklang. So schilderte er, wie Musik ihn immer wieder aus seinem Alltagsleben stößt, wenn er sich einer Sache ganz hingibt und sich dem Sog des „In-Musik-Seins“, wie der Philosoph Günther Anders es formulieren würde, nicht entziehen kann: „Es gab für mich keine Alternative“, so beschrieb Levit diese Zugkraft der Musik und antwortete damit auf die Frage, warum er Pianist geworden sei. In schonungsloser Ehrlichkeit war dann aber auch von Momenten des Scheiterns die Rede, wenn sich eine Tür einmal nicht öffnen wollte, und von der singulären Innigkeit, die einen immer dann erfasse, wenn man erst einmal durch sie hindurchgegangen sei: Dann gelte es, ganz mit der Musik allein zu sein, um mit ihr zu sich selbst zu finden. 

Aber auch von Einsamkeit war die Rede, die man als Mensch erfährt, wenn man sich mit der Musik aus dem eigenen Alltagsleben, aus dem Leben mit der Familie und mit Freunden, ausschließt. Auf diese Weise entstand ein Austausch mit direkt betroffenen, eben mit Kindern und Jugendlichen, die sich gerade selbst auf ihren Weg machen, sich im eigenen Leben zu erspüren. Wo dürfen junge Menschen sich in dieser Weise aus dem alltäglichen Kontinuum herausgerissen fühlen, wo dürfen sie sich schon ganz einer Sache hingeben, so wie Igor Levit sich über viele Jahre mit der hier vorgetragenen Musik beschäftige, die er als Kind schon zu kennen glaubte? In und außerhalb der Schule finden sich solche Ruheorte der Muße nicht. Wäre es nicht längst an der Zeit, diese einzufordern?

Über die Musik selbst wurde wenig geredet, schließlich erfüllte sie hier (frei nach Mendelssohn) die Seelen mit tausend besseren Dingen als mit Worten. Dass es für ein tiefes Eintauchen und Beherrschen einer Musik mehr braucht als nur technische Fähigkeiten, hat Igor Levit deutlich gemacht – und das gilt eben nicht nur für den Interpreten, sondern auch für die Heranwachsenden, die sich seinem Spiel im Konzert hingegeben haben: ganz ohne Exegesen und Belehrungen. Solch ein Nachdenken, das sich direkt an ein musikalisches Erleben anschließt, entwickelt sich schnell zu Gesprächen über das Leben und darüber, wie wir es selber führen. 

Was weder über ein angeleitetes Vermittlungsprojekt noch über einen lehrplangesteuerten Musikunterricht erfolgen kann, ist in den musikphilosophischen Schriften von Günther Anders bereits 1930 festgehalten als „In-Musik-Sein“ und in dem hier beschriebenen Konzertformat verwirklicht worden. 

Wenn sich der Heidelberger Frühling bereits im Jahr 2020 auf seiner Fachtagung die Frage „Was jetzt?! Auf der Suche nach der Relevanz von morgen“ stellte, dann dürfte diese Suche nach der Relevanz von Kunst, von Musik, von Musikunterricht und musikalischer Bildung für beendet erklärt werden: Musik kann „die geheime Gänsehaut des Lebens spürbar machen“ (Maurice Ravel). 

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