Bei Tschaikowski trauen sich viele Theater keine Tanzproduktionen mit Musik aus der Konserve. Zum Glück. So gelingt „Der Nussknacker“ zwar mit der jugendfreundlichen Aktualisierungssorgfalt von Ballettdirektor Stefano Giannetti in Dessau erfreulich gut, wird aber erst durch die beglückend Tschaikowski-affin spielende Anhaltische Philharmonie unter Elisa Gogou zum Fest. Leonor Campillo als träumerische Klara und Marcos Vinicius dos Anjos als Nussknacker-Traummann stehen an der Spitze der aktionsfreudigen Kompanie nebst großem Kinderchor.

Leonor Campillo, Marcos Vinicius dos Anjos. Foto: Claudia Heysel.
Wiedersehen in London – Elisa Gogou und die Anhaltische Philharmonie veredeln in Dessau Tschaikowskis „Nussknacker“
Frau und Herr Silberhaus haben überdeutlich eine Ehekrise. Sie shoppt (Carlotta Rocchi), er hat die Augen immer im Internet (Martin Anderson). Gegenseitige Rücksichtnahme ist also eher Zufall. Darauf reagiert Sohn Fritz (Marc Balló y Cateura) mit Überaktionismus und Tochter Klara (Leonor Campillo) mit träumerischen Blicken in die Welt. Klaras Traummann Drosselmeyer (Marcos Vinicius dos Anjos) kommt von draußen und schenkt ihr den titelgebenden Nussknacker. Natürlich wird die ganze Familie zur Soldateska der beiden Kriegsparteien in Klaras Traum – mit Ausnahme der rothaarigen Bestager-Großmutter (Kerstin Dathe). Die in letzter Zeit etwas ins Kreuzfeuer der Rassismus-Kritik geratenen Folklore-Nummern des zweiten „Nussknacker“-Aktes gewichtet Giannetti mit Ernsthaftigkeit und trotzdem komödiantischem Geschick. Die Eltern wollen die seit der Begegnung mit ‚ihrem‘ Drosselmeyer noch verträumtere Klara mit einer abgefahrenen Weltreise auf andere Gedanken bringen. Das geschieht jedoch anders, als sie denken. In einem London ohne Nebel, das auch ein Amsterdam mit Narzissen und Tulpen sein könnte, begegnen sich Klara und Drosselmeyer zufällig wieder. Er entführt sie mit einem souveränen Pas de deux in ein neues Leben und eröffnet Klara die Chance, einiges anders zu machen als ihre Eltern. Diese lassen Klara endlich los und kommen wieder vertraulich zusammen. Eine Zuckerfee muss also nicht eingreifen, Tschaikowskis Lieblingsinstrument Celesta spielt trotzdem. Der in der Schneeflocken-Szene mit großer Besetzung und bunter Montur singende Kinderchor wirkt in der Einstudierung von Dorsilava Kuntscheva definitiv kitschfrei. Das Wichtigste tritt ein: Der ins Jetzt flunkernde Gedankenüberbau mit einem kleinen Seitenhieb gegen Konsumterror belastet weder die tänzerische Leichtigkeit der besten Eindruck machenden Kompanie noch trübt er die Märchenhaftigkeit durch überflüssigen Ernst.
Extraklasse dazu die Anhaltische Philharmonie. Elisa Gogou akzentuiert Tschaikowskis berückende Bläserparts mit Glanz und mehr Keckheit als Melancholie. Die Streicher dürfen an den richtigen Stellen üppig schwelgen und auch jene Stellen werden erkennbar, an denen Tschaikowski sich auf starke Momente aus früheren Spitzenwerken wie aus „Eugen Onegin“, „Schwanensee“ und „Dornröschen“ besinnt und diese weiterdenkt. Das Premierenpublikum war begeistert, nur wenig fehlte zu einer lückenlosen Standing Ovation.
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