Die Berliner MaerzMusik, bislang ein „Festival für aktuelle Musik“, hat sich im Vorjahr ein neues Format gegeben. Seitdem will es als „Festival für Zeitfragen“ dem Phänomen Zeit in seinen gesellschaftspolitischen, philosophischen und künstlerischen Dimensionen nachspüren. Wieder gab es eine Konferenz „Thinking Together“, die in diesem Jahr das digitale Universum als Geburtsort neuer Zeitformen präsentieren wollte.
Es ging um die „globale Echtzeit digitaler Technologien“, kaum um Musik. Von begrenztem künstlerischem Interesse waren dann aber auch die Produkte komponierender Computer. Annie Dorsen hatte einen Computer-Algorithmus entwickelt, der einen Song allmählich in einen anderen überführt. Drei Performer realisierten spontan, was die Maschine ihnen an Noten lieferte. Joanna Bailie ließ sogenannte Field Recordings von Verkehrslärm, Glockenläuten oder Sprachmelodien durch Instrumente des Londoner Plus-Minus-Ensembles nachahmen, was trotz der Berufung auf Cage und Duchamp epigonal wirkte.
Berno Odo Polzer, der künstlerische Leiter, betrachtet die herkömmliche Konzertform als Relikt einer absterbenden bürgerlichen Gesellschaft und suchte deshalb auch in diesem Jahr wieder nach neuen Veranstaltungsformen mit – oh yeah! – möglichst englischsprachigen Titeln. Den Eröffnungsabend, der im Vorjahr als „Liquid Room“ firmierte, präsentierte er nun als „time to gather“. Der Pianist Marino Formenti hatte Klaviernoten aller Epochen von Machaut bis John Lennon und Enno Poppe mitgebracht, verweigerte aber die angekündigte Mitbestimmung des Publikums. Ungefragt begann er donnernd mit mikrophonverstärkten Clustern aus Galina Ustwolskajas 6. Sonate. Die von einem Hörer gewünschte Bach-Sarabande verfremdete er und wehrte sich gegen weitere Vorschläge: „Ich bin doch kein Wurlitzer.“
Obwohl Formenti das Publikum zum Trinken aufforderte, stellte sich die gewünschte Party-Stimmung nicht ein. Angesichts zunehmender Pausen wurde das „gather“ zum „run away“. Viele Musikfreunde fanden sich lieber draußen in der Bar. Wie im Vorjahr gab es glücklicherweise auch Abende, die herkömmliche analoge Zeiterfahrungen zuließen. Dazu gehörte – man höre und staune – Schuberts „Winterreise“ in einer extrem intensiven Wiedergabe mit Ian Bostridge und Julius Drake. Diesen umjubelten Abend und eine ebenso gefeierte Lesung aus Elfriede Jelineks „Winterreise“ mit Sophie Rois mutete Polzer seinen Avantgarde-Freunden nur deshalb zu, weil er auch Bernhard Langs Schubert-Adaption „The Cold Trip“ ins Programm genommen hatte. Die ständige Repetition einzelner Text- und Musikphrasen trieb diese von Sarah Sun und Juliet Fraser gesungenen Lieder in die Nähe von Rock-Songs.
Liebesakt und Lichtblick
Ebenfalls als eine Winterreise entpuppte sich das Musiktheater „Liebe“ von Daniel Kötter und Hannes Seidl. Einen einzigen Akteur (Wolfram Sander) sah man hier anderthalb Stunden lang auf der Leinwand durch Schnee stapfen, während er live auf der Bühne einen Eisblock zerstückelte. Obwohl das Publikum abschließend zum Eisessen eingeladen wurde – endlich ein „Liebesakt“ –, war das Ganze szenisch wie musikalisch von kaum überbietbarem Minimalismus. Die im Vorjahr gezeigten Teile der Trilogie „Ökonomien des Handelns“ hatten mehr erwarten lassen.
Als ein musikalischer Lichtblick erwies sich dagegen der von Enno Poppe souverän geleitete Auftritt des Ensemblekollektivs Berlin, zusammengesetzt aus den Spezialensembles Adapter, mosaik, dem Blechbläser-Ensemble Apparat und dem Sonar Quartett. Zwei Komponisten, Eduardo Moguillansky und Timothy McCormack, wurden beauftragt, auf der Grundlage bereits bestehender Stücke neue Kompositionen für die große Besetzung zu schreiben. Eduardo Moguillansky hatte 2012 in seinen „Zaehmungen #2“ für das Ensemble Mosaik die Streicherbögen statt mit Haaren mit Tonbändern bespannt und auf den Instrumenten Spielköpfe befestigt, was zu ungewöhnlich verzerrten Klängen führte. In seiner Ensemblekomposition „Jardin d’Acclimatation“ ergänzte er dieses Stück durch weitere Beispiele eines Mensch-Maschine-Wettbewerbs, wobei er die vordigitalen Geräte Plattenspieler und Tonband auf neuartige Weise verwendete. Nicht ganz so originell fiel die zweite Programmhälfte aus. Der noch bei Chaja Czernowin studierende Timothy McCormack hatte sein knappes Blechbläserquintett „Uns – Apparatus“ durch Dehnung in das dirigentenlose Ensemble-Stück „Karst“ verwandelt, das allerdings viele Löcher und Längen aufwies. Dennoch war dieser Abend, ein veritables Konzert mit deutlicher Trennung von Interpreten und Publikum und sogar einem richtigen Programmheft, beileibe kein überlebter Anachronismus.
Ein neues Konzertformat wurde unter dem Titel „alif::split in the wall“ im Radialsystem ausprobiert. Eine Rauminstallation der japanischen Künstlerin Chiharu Shiota, die auf der Biennale in Venedig den japanischen Pavillon gestaltet hatte, wurde dabei durch eine musikalische Performance ergänzt. Wie die Blutbahnen eines riesigen Lebewesens erfüllten beleuchtete Röhrchen den Raum, in dem Musiker und Hörer sich frei bewegen konnten. Samir Odeh-Tamimis orientalisierende Komposition „alif“, gespielt vom Zafraan Ensemble, wechselte mit Stefan Goldmanns live-elektronischer Techno-Komposition „split in the wall“ ab. So gegensätzlich die Musiksprachen auch waren, sprachen doch beide das Publikum unmittelbar an, ohne es zu überfordern. Zwischen dem gut ausbalancierten Wechsel waltete Salome Kammer als singende und tanzende Hohepriesterin.
Ästhetisches Armutszeugnis
Während sich dieses von Jeremias Schwarzer entworfene und künstlerisch geleitete Konzertexperiment an ein waches Publikum gerichtet hatte, zielte das achtstündige „Sleep“ des Briten Max Richter auf schlafende Besucher. Mit Klavier, Streichern, Elektronik und Gesangsstimme wollte es „Musikhören im Schlafzustand“ untersuchen. „Sleep ist mein persönliches Wiegenlied für eine hektische Welt“, hatte der Komponist erklärt. Verglichen mit Chopins „Nocturnes“ oder gar Bachs Goldberg-Variationen, die einem ähnlichen Zweck dienten, ist seine dahindämmernde Komposition ästhetisch ein Armutszeugnis.
Ebenfalls im riesigen Kraftwerk Berlin endete die MaerzMusik wie im Vorjahr mit dem 30-stündigen Projekt „The Long Now“. Das Publikum war eingeladen, „sich liegend, stehend, sitzend, tanzend oder essend dieser Zeitblase hinzugeben“. Schon zu Beginn, als Marino Formenti sich ausgedehnten Klavierwerken von Morton Feldman widmete, hatte die überwiegende Mehrheit des Publikums sich auf ihren Liegen für die horizontale Position entschieden. Machte es dabei neue Zeiterfahrungen oder betrachtete es auch dieses Projekt als Wiegenlied gegen eine hektische Welt? In solchen Teilen wirkte die diesjährige MaerzMusik trotz großen Publikumsinteresses nicht wie der Frühling, den ihr Name zu versprechen scheint, sondern wie die Vorbereitung auf einen langen Winterschlaf.