Arnold Schönberg und Carl Nielsen sind Zeitgenossen, der eine geboren 1874 in einem jüdisch geprägten Teil Wiens, der Leopoldstadt, der andere 1865 in einer dänischen Landgemeinde auf Fünen. Beide kamen aus einfachen Verhältnissen. Schönberg entschied sich nach Krisen und Skandalen für den Weg der Einsamkeit. Dagegen wurde Nielsen der dänische Nationalkomponist, vergleichbar mit Sibelius in Finnland oder Smetana in Tschechien.
Der Nielsen-Schwerpunkt des diesjährigen Musikfests geht auf Simon Rattle zurück, der sich schon früher mit den bei uns selten gespielten Symphonien des Dänen auseinandergesetzt hatte. Winrich Hopp ergänzte in einem beziehungsreichen Programm Werke von Mahler, Schönberg und Nielsen durch anregende Querverbindungen. So begegnete man dem „Pelleas und Melisande“-Stoff nicht nur bei Schönberg, sondern auch bei Debussy und Fauré; und dem Erzengel Gabriel aus Schönbergs „Jakobsleiter“ stand in Stockhausens „Donnerstag aus ‚Licht‘“ der Erzengel Michael gegenüber.
Umbrüche bei Schönberg und Mahler
Zum Auftakt riskierte Daniel Barenboim mit der Staatskapelle ein reines Schönberg-Programm und dirigierte auswendig die „Verklärte Nacht“ op. 4, die Fünf Orchesterstücke op. 16 und die Orchestervariationen op. 31. Dass die Philharmonie trotz dieses anspruchsvollen Programms gut besucht war, verdankt sich wohl nicht zuletzt der Anziehungskraft des Dirigenten und seines Orchesters. Nach der hochdramatisch gesteigerten „Verklärten Nacht“ fehlte es in den Fünf Orchesterstücken leider an Farb- und Detailgenauigkeit. Bei den komplexen Variationen sorgten die herausgehobenen B-A-C-H-Motive immerhin für eine gewisse Fasslichkeit. Einen überzeugenderen Eindruck von Schönbergs reichen Orchesterfarben vermittelte vier Tage später die ausgefeilte Wiedergabe seiner symphonischen Dichtung „Pelleas und Melisande“ op. 5 durch das SWR Sinfonieorchester unter François-Xavier Roth.
Schönberg behauptete oft, sein Schaffen sei unabhängig von äußeren Bedingungen. Er verdrängte die tiefgreifende persönliche Krise, ohne die er wohl nie den entscheidenden Übergang von der Tonalität zur Atonalität vollzogen hätte. Sein zweites Streichquartett op. 10, das trotz aller Auflösungstendenzen gewaltsam noch an der vorgeschriebenen Grundtonart festhält, steht an der Grenze dieses Umbruchs. Das Emerson String Quartet ergänzte dieses Meisterwerk durch weitere Kompositionen mit Geheimprogramm: Weberns knappe „Drei Stücke“ von 1913 (bezogen auf den Tod seiner Mutter) und Bergs „Lyrische Suite“ (bezogen auf eine verborgene Liebe). Barbara Hannigan trug nicht nur die sonst meist der Öffentlichkeit vorenthaltenen Baudelaire-Verse (zum Largo desolato bei Berg), sondern auch die visionären George-Gedichte im raunenden Tonfall und dem Gestus einer Seherin vor. Den Angsttraum einer Frau im Monodram „Erwartung“ (1909) setzte die Mezzosopranistin Magdalena Anna Hofmann sehr überzeugend um, während der vom Royal Danish Orchestra unter Michael Boder gespielte Orchesterpart in Ostinato-Feldern und Glissando-Schluss schon auf Bergs „Wozzeck“ verwies. Zu den Musikfest-Höhepunkten gehörte auch das selten zu hörende Oratorien-Fragment „Die Jakobsleiter“, bei dem das Deutsche Symphonie-Orchester unter Ingo Metzmacher alle Fernmusiken live darbot.
Im amerikanischen Exil hat Schönberg an der Zwölftontechnik festgehalten, wie seinem dritten Streichquartett (Arditti Quartet) oder dem Streichtrio (Solisten um Ilya Gringolts) zu entnehmen war. Gelegentlich erzielte er aber durch die Rückkehr zur Tonalität leichtere Zugänglichkeit. Interessante Belege dafür sind seine selten gespielten Variationen op. 43b und die zweite Kammersymphonie op. 38. Während Michael Tilson Thomas mit der San Francisco Symphony die Variationen klar gliederte, zeigte Matthias Pintscher am Pult der Berliner Philharmoniker wenig Sinn für das dramatische Potential der zweisätzigen Kammersymphonie. Für die Musik seines Förderers Gustav Mahler hat Schönberg erst allmählich ein Verständnis entwickelt, das sich dann aber zu tiefer Verehrung steigerte. Das erstmals beim Musikfest gastierende Israel Philharmonic Orchestra stellte beide Komponisten nebeneinander, schliff dabei allerdings viele Ecken und Kanten ab. Schönbergs 1. Kammersymphonie op. 9 wirkte allzu brav, weil der wegen einer Knieoperation im Sitzen dirigierende Zubin Mehta auf Ausdrucksgesten weitgehend verzichtete. Mahlers Symphonie Nr. 9 erhielt erst im Adagio-Finale Gewicht und Charakter, nicht zuletzt wegen der bewundernswerten Pianissimo-Kultur der Streicher.
Der Routiniertheit Mehtas stand der feurige Einsatz von Andris Nelsons gegenüber, der mit dem Boston Symphony Orchestra Mahlers Sechste zu einem eindringlichen Erlebnis machte. Er agierte beschwörend wie ein Zauberer und begann den explosiven Schlusssatz mit so großen Bewegungen, als wolle er eine gewaltige Maschine anwerfen. Mit seinem glänzend disponierten Orchester steigerte Nelsons noch das heterogene Nebeneinander in dieser Symphonie, die Qual der unablässigen Märsche. Seine extrem expressive Interpretation wurde stark und andauernd gefeiert. Auch Mahlers Siebte erklang mit dem Berliner Konzerthausorchester unter Iván Fischer rau und zerrissen, mit dem dahinjagenden Scherzo als Höhepunkt. Nach dem „Lied von der Erde“ mit dem Swedish Radio Symphony Orchestra (Daniel Harding) mit der großartigen Anna Larsson verharrte das Publikum nach den „ewig, ewig“-Rufen noch lange in ergriffenem Schweigen.
Nielsens freudiger Optimismus
Leben und Werk Carl Nielsens wurden anlässlich seines 150. Geburtstags in einer Foyer-Ausstellung liebevoll gewürdigt. In den Konzerten aber hatte der Däne neben den musikalischen Riesen Gustav Mahler und Arnold Schönberg keinen leichten Stand. Marek Janowski stellte mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Werke von Mahler (Adagio der 10. Symphonie) und Schönberg („Lied der Waldtaube“ aus den „Gurreliedern“) Nielsens dritter Symphonie gegenüber. Passenderweise hatte Schönberg die hier gebotene Kammerorchester-Fassung der „Waldtaube“ 1922 für Kopenhagen geschaffen. Zur gedanklichen wie musikalischen Differenziertheit bei ihm und Mahler kontrastierte die buntscheckige Dramaturgie bei Nielsen. Ein DDR-Konzertführer konnte deshalb seine 1911 vollendete 3. Symphonie als Ausdruck eines plebejischen Optimismus bezeichnen, der über eine überlebte Bürgerwelt triumphiert. Leonard Bernstein zog auf das Titelblatt seiner Dirigierpartitur Verbindungslinien zu Brahms und Schumann, während ihm die Nähe zu Schostakowitsch und Mahler als eher zweifelhaft erschien.
Gewichtiger ist die 5. Symphonie, die mit Nielsens „eigenem“ Royal Danish Orchestra und in Anwesenheit der dänischen Prinzessin Benedikte zu hören war. Der Komponist blickte in diesem zweisätzigen Werk 1922 auf die Bedrohung seiner friedlichen Heimat durch den Ersten Weltkrieg zurück. Pastoralen Motiven stellte er die kleine Trommel gegenüber, die das ganze Orchester zu Marsch-Rhythmen verleitete, bevor es dann doch in triumphales Es-Dur einmündete. Dieses Festhalten an optimistischer Lebensfreude verband Nielsen hier mit einem musikalischen Wagemut, der zuweilen an seinen amerikanischen Zeitgenossen Charles Ives erinnerte. Leider mussten seine Streichquartette entfallen, da das Danish String Quartet kurzfristig absagte.
Kein Gastspiel wurde stärker bejubelt als das des Boston Symphony Orchestra. Keines aber war bewegender als das des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg. Wann hört man schon sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Klaviere wie jetzt bei Kompositionen von Iwan Wyschnegradsky („Arc-en-ciel“) und Georg Friedrich Haas („limited approximations“)? Gerade bei Haas ergaben sich faszinierende Übergänge in Klang und Tonhöhe und kontinuierliche Glissandi, wie sie sonst nie geboten werden, wenngleich Schönberg schon in „Pelleas und Melisande“ Posaunenglissandi verwendet hatte. Das SWR Sinfonieorchester trat hier in voller Besetzung an, mit acht Hörnern, acht Kontrabässen und vier Harfen. Nach diesem spannenden Abend wollte man nicht glauben, dass es der letzte Berlin-Auftritt dieser Formation sein sollte. Im Publikum sah man viele Protagonisten der Neuen Musik, darunter Dieter Schnebel, Ernstalbrecht Stiebler, Enno Poppe, Heiner Goebbels und Mark Andre, die genau wussten, was dieses Orchester unter Rosbaud, Bour, Gielen, Cambreling oder Roth in den letzten sieben Jahrzehnten für sie und ihre Kollegen bedeutet hatte. In einer kleinen Ansprache dankte François-Xavier Roth dem Berliner Publikum und dem Musikfest, bevor zum Abschied noch eine anrührende Schubert-Zugabe erklang. Im Vorjahr hatte es auf dem Philharmonie-Podium flammende Appelle zum Erhalt dieses Orchesters und gegen die Fusion mit dem RSO Stuttgart gegeben – leider vergeblich.
Gegenwart und Zukunft
Zum Musikfest-Abschluss boten die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle noch einmal eine Gegenüberstellung der beiden Hauptfiguren Schönberg und Nielsen, die sich persönlich kannten, aber nicht wirklich verstanden. Das Konzert begann mit Bernard Herrmanns Musik zum Hitchcock-Film „Psycho“, deren schrille Streicherglissandi sofort die damit verbundenen Bilder wachriefen, aber losgelöst von diesen nur motorische Klangflächen waren. Obwohl sich auch Schönbergs Drama mit Musik „Die glückliche Hand“ auf eine Handlung sowie genau vorgeschriebene Farbwechsel bezieht, erschloss sich schon in der konzertanten Wiedergabe der musikalische Reichtum dieser Partitur. Der Bariton Florian Boesch verkörperte in dem von Schönberg selbst verfassten Künstlerdrama den mit der glücklichen Hand begabten Mann, dem Mitglieder des Berliner Rundfunkchors als feindliche Umwelt gegenüberstanden. Das Orchester spielte intensiv, aber nicht immer in der vorgeschriebenen Dynamik. In der zweiten Programmhälfte, die Carl Nielsen gewidmet war, steigerte Rattle noch den engagierten Einsatz. Aber trotz so großartiger Solisten wie Dominik Wollenweber (Englischhorn) und Andreas Ottensamer (Klarinette) blieb „Pan und Syrinx“ eine gefällige Tondichtung. Nielsens 1915 vollendete vierte Symphonie („Das Unauslöschliche“) begann stürmisch und mit scharfen Streicherakzenten, verfiel aber immer wieder in idyllische Harmlosigkeit. An lautstark forcierter Dramatik, hier durch zwei Paukisten unterstrichen, fehlte es nicht. Schostakowitsch sollte solche Konflikte bald darauf aber eindringlicher auskomponieren.
Im Schlussbeifall nach Schönbergs „Glücklicher Hand“ war auch Gijs Leenaars, der neue Leiter des Rundfunkchors und Nachfolger Simon Halseys, auf das Philharmonie-Podium getreten. In seinem Antrittskonzert, das ebenfalls zum Musikfest gehörte, dirigierte er in der Kreuzberger Passionskirche mit ruhiger Konzentration A-cappella-Chöre von Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach und Arnold Schönberg. Schönberg hatte seine musikalische Laufbahn als Dirigent von Arbeiterchören begonnen, als Komponist jedoch kaum Rücksicht auf seine Interpreten genommen. Er überforderte sie permanent. Sein Opus 13, „Friede auf Erden“ für achtstimmigen Chor a cappella, hatte wegen der Intonationsschwierigkeiten lange der instrumentalen Unterstützung bedurft. Für den Rundfunkchor Berlin existierten hier solche Probleme ebenso wenig wie bei dem sechsstimmigen Psalm „De Profundis“ op. 50b, er konnte sich deswegen ganz dem intensiven Ausdruck widmen. Mit ihrem zwölftönigen Melos und dem Nebeneinander von Sprechen, Singen und Rufen überstieg die späte Psalmkomposition weit die Möglichkeiten des Auftraggebers, des ebenfalls aus Berlin geflohenen Chordirigenten Chemjo Vinaver, und wurde erst nach dem Tod des Komponisten uraufgeführt. Anders als Nielsen war Schönberg an der Zukunft der Musik mehr interessiert als an seiner Gegenwart. Entsprechend größer ist aber auch das Entwicklungspotential seiner Werke.