Eingeladen hatte die Berliner Gesellschaft für Neue Musik (BGNM) in das Foyer der Komischen Oper Berlin, um mit Aribert Reimann über „Wieviel Avantgarde braucht die Oper? – Expression, Kalkül und Katharsis im modernen Musiktheater“ zu sprechen. Ralf Hoyer, Vorstandsvorsitzender der BGNM und die Journalistin Christine Lemke-Matwey vom „Tagesspiegel“ sollten den Komponisten Aribert Reimann (letztjähriger Siemens- und GEMA-Musikautoren-Preisträger) dazu befragen. Dachte man zumindest, nachdem der Einladungstext und Titel der Veranstaltung dies ankündigten. War aber nicht so.
Während der knapp 90 Minuten Gespräch, unterbrochen von einer Videoeinspielung der Reimannschen „Medea“-Aufführung in Wien, ging es im Wesentlichen um die Arbeitsweisen und -techniken eines Komponisten. Wie und wo findet man den Stoff, wie nähert man sich musikalisch dem Text? Was wird entworfen, was verworfen? Wo und wann findet man den „Klang“, wie passt alles dann zusammen? Alles ganz wunderbar und „interessant“, wenn man sich dem Wirken und Werken Aribert Reimanns annähern will.
Nicht alle teilten aber dieses Interesse und fragten an, wann es endlich um das Thema Avantgarde gehen würde. Ein Hauch von Skandal wehte durch das Foyer der Komischen Oper Berlin, als ein Besucher nach knapp 26 Minuten darum „bat“, das „Gesülze“ sein zu lassen. Und einen Hauch von Antwort bot das Podium nach langem Abwiegeln – man werde schon noch zum Thema kommen. Reimanns Antwort möchte ich im Wortlaut wiedergeben. Sie ist symptomatisch für das Scheitern der Veranstaltung:
„Jeder versteht unter Avantgarde etwas anderes. Ich bin ich, ich kann nur so komponieren, wie ich bin. Ich habe meine eigene Vorstellung von Avantgarde. Und wenn Sie 'Medea' sehen oder den 'Lear' hören, dann ist das meine Auffassung von Avantgarde. Jeder hat eine andere. Es gibt so viele junge Komponisten, die heute wieder mit Musiktheater sich beschäftigen, jeder hat seinen eigenen Einstieg, jeder macht etwas anderes. Es gibt nicht 'die' Avantgarde, die man nun machen muss, die alle gleich machen. Das wäre stinklangweilig. Jeder muss seinen eigenen Weg damit finden. Avantgarde ist ein freier Begriff. Ich habe meinen und bin auch meinen Weg gegangen. (...) Dann spreche ich mit anderen, die haben eine andere Vorstellung - gerade von den Jüngeren auch - also, das ist ein sehr weiter Begriff. Was heißt hier Avantgarde? In dem Moment, wenn man etwas Neues macht, ist man in der Avantgarde. Nur, das ist für jeden etwas anderes.“
Das ist ein etwas ernüchterndes Ergebnis dieser Veranstaltung, die übrigens ganz gut und durchwachsen besucht war. Gegen Ende gab es noch ein paar Fachfragen zur musikalischen Gestaltung des anschließend zur Aufführung kommenden „Lear“ in der komischen Oper und ein, den ganzen Konservatismus der Veranstaltung erhellendes Schlusswort der Musikjournalistin Lemke-Matwey:
„An all dem Aufwand sieht man, dass Oper eine sehr opulente Kunstform ist, und vor allen Dingen sieht man, dass es sich wirklich und überhaupt hauptsächlich um Kunst handelt und nicht darum, irgendwelche Realitäten (...) auf die Bühne zu bringen. Es geht immer um Kunst. Es geht um Kunst, es geht um Gestaltung von Leben und von Wirklichkeit und von Realität. In diesem Gestaltungsprozess kann ich verschiedene Haltungen einnehmen, verschiedene Wahrnehmungen haben. (..) Ich glaube, darum geht es. Es geht um Gestaltung. Es geht um Kunst. Es geht vielleicht auch ein bisschen um Interpretation. Und es geht nicht darum, nackte Realitäten zu schaffen, weil, mit nackten Realitäten sind wir 24 Stunden am Tag umgeben.“ (Zahlreicher Applaus!)
Da fragt man sich dann schon, ob diese Form der Selbstbestätigung von Kunst als Kunst nicht doch dazu geeignet ist, irgendwann und irgendwie den Protest heraufzubeschwören. Ist es wirklich nötig, für „Kunst“ einen so großen Aufwand zu betreiben, sich in Reimanns „Medea“ über ein dort behandeltes „Migranten-Problem“ in Kunstform belehren zu lassen? Statt um Avantgarde ging es in dieser Veranstaltung mithin vielmehr um die künstlerische Einsiedelei – um das Subsystem Kunst, eigentlich präziser um den selbstorgansierten und selbstgewarteten „Kunstbetrieb“. Lemke-Matwey hat dies sehr deutlich bei der Zurechtweisung des aufmüpfigen Besuchers formuliert: „Ich glaube, wir müssen das hier einfach abbrechen und unsere Veranstaltung weiter fortführen. Wir treffen uns ja nicht, um eine Art von Systemkritik zu formulieren oder irgendwie andere Opernhäuser mal wieder in die Luft zu sprengen oder dergleichen.“ Schade. Wirklich schade.
Die gesellschaftliche Relevanz von Oper wird über Stoff und künstlerische Verarbeitung erst postuliert, um dann die Spitze durch die Stilisierung zur „bloßen“ Kunstfertigkeit umso gründlicher abzubiegen.
Die ganze Unsicherheit bezeugen die letzten Worte Aribert Reimanns bei dieser Veranstaltung: „Ich versuche einfach, jede Form und alles Plakative zu vermeiden und das in eine Form zu bringen.“ (Applaus!) – Na denn.
Anhang: Die zitierten Passagen im O-Ton: