Jeder Mensch ist ein Individuum. Aber wir alle teilen gleiche Sehnsüchte und einen Planeten, dessen künftige Bewohnbarkeit ungewiss ist. Niemand kann ausweichen, wenn Menschengruppen ihre Lebensräume verlassen müssen. „Exodus“ ist ein Wort für solche Vorgänge, die so alt sind wie die Menschheit selbst. Die Ruhrtriennale verhandelt in diesem Jahr dieses Thema – und auch die Choreografin Sasha Waltz mischt sich mit ihrer aktuellen Produktion dazu ein.
„Exodus“ wurde im Sommer in Berlin uraufgeführt. Bei der Ruhrtriennale betreibt Sasha Waltz bewährte Truppe nebst Gästen eines ganz besonders lustvoll: Nämlich die riesigen Industriebauten zu bespielen – und diesmal auch das Publikum zum „Mitmachen“ einzuladen!
Die frontale Bespiel-Situation zu verneinen, ist geradezu Pflicht in den weitläufigen Industriedenkmälern des Ruhrgebiets. Auch fehlt jede Bestuhlung an diesem Abend in der Bochumer Jahrhunderthalle. Alles, was Sasha Waltz betont dezentrale Choreografie vorgibt, findet irgendwo und überall im Raum statt. Allein deswegen muss hier schon jeder – räumlich betrachtet – Stellung beziehen.
Sie sind überall, die Getriebenen, Menschen auf der Flucht, die Akteurinnen und Akteure, die ruhelos von überall her, nach überall hin, den Raum durchmessen. Zur Skulptur gerinnen einige von ihnen, sind phasenweise in Plexiglasvitrinen eingepfercht. Manche sind wirklich im wahrsten Sinne des Wortes „unter“ uns, wenn sie sich auf dem Boden winden. Hier wird stilisiert, gestaltet und performt hier mit allem, was an temperamentvoller Bewegungskunst möglich ist. Was unter den hiesigen, „happening-artigen“ Bedingungen nie artistisch oder circensisch, sondern um so unmittelbarer wirkt.
Auch die Musik des Soundwalk-Collective nutzt den Raum als ästhetisches Material. Düstere Klangwände türmen sich so kolossal wie die Mauern alter Industriebauten. Es pulsiert und wabert, immer betont unterschwellig. Auch werden bedrohlich wummernde „Field Recordings“ so symbolträchtigen Orten wie dem Berliner Technoclub Berghain abgelauscht – ein Ort, der durch seine strenge Türpolitik ja auch ein Spannungsfeld zwischen sozialer Selektion und Ekstase symbolisiert.
Sasha Waltz „Exodus“ bleibt jedoch nicht bei dieser eingeschlagenen Richtung. So werden die dramaturgisch bezwingenden Bilder der Anfangs-Sequenzen von einem bunt gemischten Szenario von positiver sozialer Utopie abgelöst – was in den fast drei Stunden Aufführungsdauer langatmig und kurzweilig zugleich wirkt. Kollektiver befreiender Tanz als verlässlicher Entfaltungsraum für wärmende Nähe – so etwas wird von Sasha Waltz Compagnie mit einem riesigen Vokabular an Körpersprachen ans teilnehmende Publikum weitergeben. Zuweilen wird auch mal revoluzzerhaft zu Death-Metal-Klängen zum Sturm auf die Barrikaden aufgerufen. Eingespielte Wagner-Zitate sollen wohl an die ewige Relevanz rauschhafter Katharsis-Zustände gemahnen. Schließlich ergreifen die Akteure ihr Publikum an den Händen, ziehen es mit auf die Tanzfläche. Wir alle auf der Straße zum pulsierenden Beat vereint – schön war es ja auch schon in den 1990ern auf der Loveparade!
Neu, gar revolutionär sind solche Statements nicht. Man fragte sich nach dem Abebben des langen – für die tänzerische Leistung hochverdienten! – Applauses etwas ratlos, wo denn die dramaturgische Richtung geblieben war. Gut tat, wer alles unmittelbar aus sich selbst heraus auf sich wirken ließ. Gutes Tanztheater setzt ja auch auf unmittelbare, emotionale Ansprache – in dieser Hinsicht appelliert „Exodus“ mit viel ansteckendem Charme an die Beweglichkeit jedes einzelnen!
- Weitere Aufführungen: 18., 19., 20. September, es sind auch noch Rest-Tickets verfügbar