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Mitwirkendes Publikum mit VR-Brillen in Alexander Schuberts „A Perfect Circle“. Foto: Martin Sigmund
Mitwirkendes Publikum mit VR-Brillen in Alexander Schuberts „A Perfect Circle“. Foto: Martin Sigmund
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Wir müssen reden !

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Viele Wörter, Bilder und Szenen beim Stuttgarter Festival ECLAT
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Experimentelle Konzepte der Produktion, Präsentation und Rezeption gehören zum Selbstverständnis neuer Musik, die sich durch kritische Selbstbefragung ihrer Innovationskraft und gesellschaftlichen Bedeutung versichert. Systembedingte Krisensymptome zeigen sich jedoch, wo nicht erst probiert, gefiltert, revidiert und optimiert wird, sondern dem Innovations-, Effizienz- und Finanzdruck gehorchend – Honorar gibt es nur für gelieferte Uraufführungen – halbfertige Prototypen veröffentlicht werden und immer mehr Musikschaffende und -veranstaltende der spezifischen Eigenart und Wirkungsmacht des Klingenden misstrauen. Sie setzen stattdessen auf Bilder, Filme, Games, Wörter, deren angeblich größere soziale Relevanz man mehr reklamiert als ästhetisch realisiert. Der Reflex auf die Beziehungskrise zwischen Komponierenden, Musik, Publikum und Gesellschaft lautet immer häufiger: Wir müssen reden!

Wie vielerorts klafften Anspruch und Wirklichkeit auch in etlichen Arbeiten beim diesjährigen Festival Neue Musik ECLAT im Stuttgarter Theaterhaus auseinander. Sechzehn durchweg sehr gut besuchte, teils überzogen lange Konzerte boten insgesamt 53 aufgeführte Stücke, darunter allein 37 Uraufführungen. Das Festival profiliert sich durch szenisch erweiterte Projekte, bevorzugte Beteiligung der mittleren, jungen und jüngsten Generation sowie zahlreicher Komponistinnen, heuer 22. Die Leiterin Christine Fischer versteht die fünftägige Veranstaltung als „Seismograph für Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklungen“. Es sollen Utopien formuliert, Haltungen durch Musik ausgedrückt, solidarische Gemeinschaften beschworen sowie Diskurse über „neue, bewusste Wahrnehmungshaltungen und das Durchleben von neuen sozialen Strukturen“ eröffnet werden. Je hehrer die Ambitionen, desto größer aber auch die Fallhöhe.

Das Klangforum Wien wollte mit „Happiness Machine“ nichts weniger als ein „Gespräch über die Zukunft der Welt“ provozieren. Zehn Animationsfilmerinnen und Komponistinnen thematisierten aktuelle Missstände, wo Menschen eigene Interessen über das Gemeinwohl stellen. Der Trickfilm von Elisabeth Hobbs variierte zu Walzeranklängen von Carola Bauckholt das Märchen vom „Fischer un siine Fru“, die den Hals nicht voll bekommt. Eni Brandner zeigte zu Musik von Misato Mochizuki einen Fresskünstler, der sich ganz allein ein üppiges Bankett durch Mund, Nase, Ohren stopft. Samantha Moore feierte einen Textilhersteller, der lokale Arbeitsplätze sichert, wozu Malin Bång verschiedene instrumental imitierte Maschinengeräusche hören ließ. In anderen Fällen griffen Sicht- und Hörbares weniger ineinander. Statt harte Fakten realistisch abzubilden, folgten alle Filme einer artifiziellen Zeichen-, Bastel- und Knetfiguren-Ästhetik. In Serie gebracht wirkte dieser Non-Konformismus jedoch konformistisch wie retrospektives Daumenkino samt Manu­factum-Siegel des guten alten Handgemachten: echt, original, künstlerisch.

Zwischen den Filmen sprachen Mitglieder des Klangforums autobiographische Statements, politische Appelle, märchenhafte Fabeln,  persönliche Bekenntnisse oder peinliche Plattitüden. Problematisiert wurden Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, der ökologische Fußabdruck des weltweit tourenden Ensembles, das Verhältnis von künstlerischem Anspruch und sozialem Zusammenhalt, sowie als Quelle allen Übels die seit dem Erbsündenfall verlorene Verbindung des Menschen zu Gott. Kritik an Konkurrenzdenken, Kapitalismus, Profitgier und Naturzerstörung ist ebenso berechtigt wie im Konzertsaal billig. Denn sie verpflichtet zu nichts, verschafft aber moralische Erleichterung und Identifikation mit dem Klangforum Wien als Vorbild einer besseren Gesellschaft. Dabei verfuhr das dreistündige Riesenprojekt wenig rücksichtsvoll mit den kostbaren Ressourcen Geld, Zeit und Aufmerksamkeit, sondern affirmierte letztlich selber eben jene kritisierte Wachstums- und Verdrängungslogik „Think big, get bigger, be the biggest!“, welche die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten vernichtet.

Das zweite expansive Großprojekt „Circles“ versammelte sieben teils konzertante, teils partizipative Projekte. Martin Schüttler und Mara Genschel ließen das Publikum im Sitzkreis Platz nehmen und der Reihe nach den jeweils rechten Nachbarn kurz beschreiben, mehr nicht. Hannes Seidel ließ die Neuen Vocalsolisten wie bei Hausmusik in wechselnden Formationen am Klavier unkenntliche Bruchstücke aus Popsongs singen und je nach pianistischen Fähigkeiten spielen. Huihui Cheng ließ in ihrem Kartenspiel „Your Turn“ aufgezeichnete Silben, Lautfolgen und kleine Bildchen sprechend, singend, schauspielend realisieren und nach dem Prinzip von „Ich packe meinen Koffer…“ zu Ketten reihen, woran sich das Publikum mit Klatschen, Trampeln, Schnarchen und dem Rügen von Fehlern beteiligen durfte. Zu aktiven Mitspielern mobilisierte Alexander Schubert das Auditorium. In „A Perfect Circle“ saßen sich die Besucher wie bei einer „therapeutischen Gruppensitzung“ paarweise auf Matten gegenüber, um sich durch VR-Brillen anzusehen und Ansagen zu folgen: Kopf nach links und rechts drehen, Arme ausstrecken, sich gegenseitig die Hände geben, an den Schultern berühren, die Wange streicheln, den warmen Atem des anderen spüren, einander umarmen, fester und fester… Denselben Anweisungen folgten Besucher in einem zweiten Raum, die durch VR-Brillen jedoch nicht sich gegenseitig sahen, sondern die VR-Videos der Besucher aus dem ersten Raum, welche die vor Ort körperlich anwesenden Personen zu virtuellen Avataren überformte.

Bei einem Artist Talk gab Daniel Gloger inszeniert Auskunft über sein Leben als Sänger. Zwischen artifiziellem Spiel und gespielter Authentizität berichtete er sprechend und singend von Übungen, Ernährung, Lektüren, Reisen, Meditieren, bestimmten Frequenzen… Ein eigenes Format bildete auch die „Schubert Lounge“ von Eivind Buene. Abwechselnd mit originalen und instrumentierten Schubert-Liedern verdeutlichte der norwegische Komponist auf dem E-Piano mit englisch übersetzten Nummern aus der „Winterreise“ den Umstand: Auch Singer-Song-Writer Schubert got the Blues. Das SWR Vokalensemble begeisterte mit beschwörend intensivem Beginn von Michael Pelzels Zaubersprüchestück „Hagzusa und Galsterei“. Gemeinsam mit dem Badischen Jugendchor intonierte man in Christian Wolffs „Voices“ verschiedene Gesangstraditionen von Bach, Mozart, Eisler, Männer- und Kinderchor. Das SWR Symphonieorchester spielte unter Brad Lubman erstmalig Vito Žurajs überladenes „Der Verwandler“, Vykintas Baltakas’ dieselbe Motivzelle in Farben und Dichtegrade variierendes „Sandwriting II“ und Christian Winther Christensens „Piano Concerto“, bei dem Solistin Rei Nakamura tonlose Anschläge zu totaler Entropie erstarren ließ: Ende der Gattung, Ende der Musik, Ende der Welt.

Dass die leichtfertig totgesagte Musik im traditionellen Konzertformat nach wie vor voller Leben und Erfahrungsmöglichkeiten sein kann, bewiesen in abwechslungsreichen Programmen das Violine-Klavier-Duo Hellquist/Amaral und das Ensemble ascolta mit ausgezeichneten Interpretenleistungen.

Niklas Seidls fetziges „5 gentlemen“ trieb Trompeter Markus Schwind in Schwindel erregende Spitzenlagen, bevor sich Seidl selber als Solocellist in Milica Djordjevics „Fail“ ein furioses Duell mit verzerrender Elektronik lieferte. In Eiko Tsukamotos feiner Klangkomposition „ma“ wanderten ungewohnte Gitarren-Flageoletts über Cello-Liegetöne zu dumpfen Marimbaschlägen, während sich in Bnaya Halperin-Kaddaris „siren“ leise Reibe-, Streich- und Blasgeräusche zu sanft-meditativen Flächen verbanden.

Den 63. Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart erhielten Ondrej Adámek für „Ça tourne ça bloque“ und Ole Hübner für „Drei Menschen, im Hintergrund Hochhäuser und Palmen und links das Meer“. Die vom Klangforum Wien gespielten Stücke ähnelten sich in der Verwendung von Sprechtexten und tonalen Anklängen. Während Adámek das heterogene Material durch auskomponierte Mutationen beziehungsreich verband, wirkten die Situationen bei Hübner dem Werktitel entsprechend nur collagiert.

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