Ein Leben ohne Neue Musik habe er sich nach dem Kompositionsstudium in der Schweiz und in Frankreich nicht mehr vorstellen können. Als Kompositionsprofessor des Shanghaier Konservatoriums rief Wen Deqing deshalb 2008 die New Music Week ins Leben – „in erster Linie für mich selbst, in zweiter Linie für das Konservatorium und die Stadt“, gesteht er augenzwinkernd. Die New Music Week ist das erste Festival für Neue Musik in Shanghai und nach dem nur vier Jahre älteren Beijing Modern Music Festival erst das zweite in China überhaupt.
Unter Neuer Musik versteht Wen Deqing zunächst das, was man auch in Europa darunter versteht: die westliche Avantgarde seit 1945 mit ihren unterschiedlichen Strömungen und Protagonisten. Wie man diese Art von Musik dem damit bisher eher unbehelligt gebliebenen chinesischen Publikum näherbringen kann, davon hat Wen ganz klare Vorstellungen: Einerseits dürfe man dem Zuhörer nicht zu viel zumuten, müsse Schritt für Schritt vorgehen. Deshalb besteht das Festivalprogramm überwiegend aus Porträtkonzerten, in denen jeweils ein einzelner Komponist, eine Strömung oder eine Region im Fokus steht. Anderseits, und das ist Wen besonders wichtig, komme es auf die Qualität der Aufführung an.
Von exzellenten Musikern gespielt, würden auch die komplexesten Werke zugänglich, so seine Theorie. Getreu diesem Motto investiert Wen sein Budget statt in Kompositionsaufträge lieber in gute Interpreten. Mit dem Ensemble Intercontemporain war in diesem Jahr die erste Riege der Neue-Musik-Welt zu Gast, ergänzt durch das Ensemble Offspring aus Australien und das Genfer Ensemble vocal Séquence. Auf dem Programm standen Repertoirestücke von Luciano Berio über Arvo Pärt hin zu Beat Furrer, der als Composer-in-Residence auch einen Vortrag über seine Musik hielt. Trotz der tatsächlich über jeden Zweifel erhabenen Interpretationen ist doch der Mut der Festivalmacher bemerkenswert, das Publikum bei der Programmgestaltung nicht zu schonen. So wurden nicht nur musikalisch anspruchsvolle, sondern auch Sitzfleisch fordernde Stücke zur Aufführung gebracht, darunter Stockhausens siebzigminütige „Stimmung“ für sechs Vokalisten von 1968.
Das Publikum dankt den Machern diesen Mut: Die Säle sind mit dreihundert, vierhundert – vor allem studentischen – Zuhörern immer prall gefüllt, für die Musiker gibt es Beifallsstürme wie man sie in Europa nur selten erlebt.
Soweit kann man sich als festivalerfahrener Europäer fast zu Hause fühlen. Wären da nicht die chinesischen Komponisten und ihre Stücke, die ebenfalls zahlreich, dann auch in Form von Uraufführungen auf dem Programm standen. Die Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln und Traditionen zieht sich wie ein roter Faden durch diese Werke. Für Chen Yi ist sie gar zentrale Triebfeder ihres kompositorischen Schaffens. Die seit den 80er- Jahren in den USA lebende Komponis-tin wird in China ob ihrer internationalen Erfolge – sie schrieb bereits für die New Yorker Philharmoniker oder die Staatskapelle Berlin und erhielt unter anderem einen Pulitzerpreis – als Superstar gefeiert und gilt als das internationale Aushängeschild chinesischen Musikschaffens. Ihr Stil ließe sich grob als asiatisch inspirierte, zeitgenössische Klassik amerikanischer Art umreißen. Die chinesischen Einflüsse schlagen sich dabei sowohl in der Verwendung traditioneller Instrumente wie auch im Einsatz asiatisch anmutender – „pentatonischer“ – Melodien nieder. Bei Chen bleibt es – wie bei den meisten ihrer Kollegen – jedoch bei der oberflächlichen Zurschaustellung eines chinesischen Exotismus in einer Musik, die ihren Hang zur Gefälligkeit nicht verbergen kann. Etwas musikalisch Neues entsteht dabei nicht. Daran ändert auch der gelegentliche Einsatz von Techniken und Klängen der Neuen Musik nichts: Wenn Chen mal einen Pianisten ins Klavier greifen, die Violinen quietschen oder ein Stück ohne Schlusswendung enden lässt, dann ist das mangels musikalischen Sinns mehr ein eklektizistisches „Schaut her, das kann ich auch!“, denn souveränes Komponieren.
Der Höhepunkt der Leichtigkeit wurde im großen Abschlusskonzert des Shanghai Symphony Orchestra erreicht. In der neu gebauten und hervorragend klingenden Konzerthalle wurde dem Publikum ein Programm geboten, dass nach Stockhausen am Nachmittag schon beinahe satirische Qualität hatte. Vier Kompositionsprofessoren des Shanghaier Konservatoriums hatten unter der Überschrift „Symphonic Shanghai“ versucht, ihre Eindrücke von der Stadt in Musik zu fassen. Herausgekommen ist dabei etwas, das sich am ehesten dem Genre „Easy Listening“ zuordnen ließe. Chen Musheng beispielsweise ließ in „Morning Rays on the Sea“ neben dem Orchester eine verstärkte traditionelle tibetische Sängerin und einen E-Gitarristen an Weltmusik erinnernde Ambientklänge hauchen. Den krönenden Abschluss bildete Ye Guohuis Violinkonzert „Echoes of Shanghai“. Mit seinen langen träumerisch-romantischen Solopassagen war es an Kitsch kaum noch zu überbieten und hätte eher in eine Hollywood-Schnulze der 50er-Jahre denn auf ein Neue-Musik-Festival gepasst.
Natürlich sei die Situation anders als in Europa, gibt Wen Deqing zu bedenken. Chinesische Komponisten seien viel stärker auf die Unterstützung des Publikums und auch die des Staates angewiesen. Deshalb höre man oft melodischere, leichter zugängliche Stücke.
Dass diese Haltung und die daraus resultierende Musik in diametralem Widerspruch nicht nur zum Geist der europäischen Avantgarde, sondern auch der Publikumsreaktion stehen, damit scheint man in China wenig Probleme zu haben. So spiegelt sich in der Musik eine Gesellschaft, die auch sonst an Widersprüche gewöhnt ist: Zwischen kommunistischem Anspruch und blühendem Kapitalismus, zwischen Globalisierung und Reisefreiheit auf der einen und intellektueller Repression auf der anderen Seite. In der herrschenden Ideologie ist auch der Grund für den Charakter der Musik zu suchen. Die Idee des Konzerts als mehr oder weniger hochkultureller Angelegenheit wurde in China durch das Konzept des „Abends“ ersetzt, einer Veranstaltung die den Massen vom Arbeiter bis zum Intellektuellen zugänglich sein soll. So erklärt sich auch, dass sich ansonsten durchaus ambitioniertere Komponisten angesichts des großen Rahmens eines Symphoniekonzerts zu dieser Art Populärsymphonik hinreißen lassen: Je größer die Besetzung, je größer der Anlass, desto seichter die Musik.
Ein weiteres Charakteristikum chinesischen Komponierens ist der Hang zu poetischen Sujets. In programmmusikalisch-lautmalerischer Manier werden in Titel oder Werkkommentar aufgegriffene Gedichte und Motive umgesetzt. Das gilt selbst dann noch, wenn die Musik anspruchsvoller wird. Im Rahmen eines Studentenkonzerts hob das Ensemble Offspring beispielsweise „DuanGeXing“ von Shen Yiren aus der Taufe. Shen zeichnet das zu Grunde liegende Gedicht zwar narrativ nach, geht aber mit modernen Techniken und unbequemen Klängen wesentlich souveräner um als die meisten ihrer älteren Kollegen. Auch der zwanzigjährige Geng Shiqi bleibt in „Spring Rain of a Lotus Pond“ für Flöte, Klarinette, Vibraphon und Klavier dem Poetischen treu. Das deutlich von Gengs Liebe zur französischen Musik geprägte Werk zeigt aber darüber hinaus, dass Klangschönheit auch in anspruchsvoll geht – Offspring-Schlagzeugerin Claire Edwardes möchte das Stück gar als exemplarisch für diese Besetzung verstanden wissen.
Auch wenn die junge Generation in technischer Hinsicht hoffen lässt, macht sich doch ein Mangel an strukturellem Denken bemerkbar. Liegt es an der chinesischen Kultur, an den politischen Verhältnissen oder ist es gar eine Art Selbstzensur? In Anbetracht der Bedeutung intellektueller Reflexion für die Geschichte der westlichen Neuen Musik vermittelt dieser Mangel in jedem Fall ein beklemmendes Gefühl. Wohin sich die chinesische Musik entwickelt, das scheint angesichts der einzigartigen kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso offen, wie die Frage nach der Entwicklung der chinesischen Gesellschaft selbst.