Sven Thomas Kiebler spielte Lachenmanns „Schattentanz“ als wollte er tatsächlich die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Die kleine Sekunde h-c in höchster Lage repetiert, brachte erst das benutzte Intervall zum Verschwinden, um dann die Nebengeräusche zur Hauptsache werden zu lassen. Der Hintergrund wurde Vordergrund. Gehört wurde nicht mehr ein Lied auf dem Klavier, sondern tatsächlich Klavier auf einem Lied wie Lachenmann selbst einmal über seine Entdeckungsreise ins Innere eines „allzuvertrauten Möbelstücks“ anmerkte. Ein entfesselter 6/8-Rythmus, ein gehetztes Siciliano schob alles, was normalerweise „dahinter“ ist nach vorn, schuf einen fluroeszierenden Hallraum, ließ die Verhältnisse tanzen.
Letzteres war vom Freiburger Pianisten im Übrigen keineswegs nur musikalisch gemeint. Nach dem Konzert trat Kiebler zusammen mit dem Komponisten Michael Quell vor das Publium, um im Namen aller beteiligten Künstler ein unmissverständliches Wort zu den Umständen zu sagen, unter denen die 6. „antasten“-Ausgabe stattfand. Zum ersten Mal in der zehnjährigen „antasten“-Geschichte war das 150 Seiten starke Programmheft mit Protestnoten gepflastert. (Vgl. nmz 9/03, S. 10) Drastische Mittelkürzungen der öffentlichen Hände sowie das Abspringen von Hauptsponsoren hatten das eigentlich immer schon unterfinanzierte, vom Verein Kulturring Heilbronn veranstaltete Festival diesmal tatsächlich an den Rand des Scheiterns getrieben.
Verantwortlich für diese Schieflage waren auch verheerende Interviewäußerungen des Heilbronner Oberbürgermeisters und Kulturdezernenten. Ohne Not hatte dieser im Vorfeld ein überregional angesehenes Festival, das seit zehn Jahren mit dem Namen der Stadt Heilbronn verbunden ist und dieser internationale Reputation eingespielt hat, als einen der „Neckarschifffahrt“ vergleichbaren „Randbereich“ bezeichnet, für den er sich „bei steigendem Finanzdruck nicht stark machen würde“.
Was den Gegenwarts-Komponisten gern vorgeworfen wird, Dissonanzen unaufgelöst stehen zu lassen – dafür hatte die (Heilbronner) Politik diesmal peinlicherweise selber gesorgt. „…antasten…“ angetastet – diese Meldung sollte allerdings nicht das letzte Wort behalten dürfen, meinten jedenfalls Kiebler und Quell, als sie insbesondere das anwesende Heilbronner Publikum aufriefen, ihr Neue-Musik-Interesse gegenüber den politischen Repräsentanten nachhaltig zu bekunden. – Ausgang ungewiss. Künstlerisch war der Gründer und Kurator des Internationalen Pianoforums Heilbronn, der Musikwissenschaftler und Komponist Ernst-Helmuth Flammer, auch diesmal wieder der Empfehlung von Goethes Theaterdirektor gefolgt, vieles zu bringen – 30 Veranstaltungen mit Gesprächs- und Porträtkonzerten, Symposien und Diskussionen an fünf Tagen. Darin eingepackt der diesmalige Themenschwerpunkt: neue Klaviermusik aus Italien.
Trotz eines durchweg hohen interpretatorischen Niveaus hinterließ deren Präsentation allerdings einen eher zwiespältigen Eindruck. Die vom Klavierduo Notarstefano/Risaliti vorgestellten Arbeiten einer nicht mehr ganz jungen Komponistengeneration hielten sich ans Atmosphärische, an ein Nachzeichnen eklektischer Sujets, einschließlich angestaubter Theatergesten wie Sich-Hüte-Aufsetzen, pantomimische Aktionen und dergleichen. In Nicola Cisterninos „Pianopiano – Ommagio a Joseph Beuys“ verstummte die Musik schließlich völlig, verwandelte sich in eine Geräusche absondernde Plastik. Der 1960 geborene Komponist hatte den Konzertflügel mit schwarzem Tuch verhängt und seine Pianistin Silvia Belfiore darunter versteckt: neue Klaviermusik als allegorisierendes Musiktheater.
Nach soviel Schöngeisterei war es an dem 1955 geborenen römischen Komponisten Diego Minciacchi, ein alter Bekannter nicht nur beim Heilbronner Avantgardefestival, andere Töne anzuschlagen. Seine von James Clapperton in Horowitz-Manier vorgetragenen Klavierkompositionen der Jahre 1979 bis 2003 gaben sich als unmissverständlicher Kontrapunkt zu jedweder ästhetischer Unverbindlichkeit und Beliebigkeit.
Neben den luziden Auftritten von Sven Thomas Kiebler und Nicolas Hodges mit einer genialen Interpretation von Beat Furrers „Phasma“ war es dieses von Clapperton grandios gestaltete Minciacchi-Porträtkonzert, das zu den Höhepunkten eines über Strecken durchwachsenen „antasten“-Jahrgangs 2003 gehörte. Zugleich war damit klar, dass in einer global gewordenen Welt jede Art national-räumlich gebundene Porträtgalerie ihre Eigenständigkeit eingebüßt hat.
Doch solange sich ein Internationales Pianoforum wie das Heilbronner Festival dessen bewusst ist und sich selbst aus gefährlichen Untiefen zu retten versteht, solange braucht man sich, was die künstlerische Zukunft dieses einzigartigen Schmelztiegels neuer Klaviermusik und Pianistik anlangt, keine Sorgen zu machen.