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Wo es komisch ist, da fängt der Ernst an

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Mauricio Kagel bei den Weingartener Musiktagen
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Seit 1986 ist die kleine Stadt Weingarten in der Nähe des Bodensees eine gute Adresse, will man sich gezielt mit dem Schaffen eines Komponisten auseinandersetzen. Cage und Lachenmann, Stockhausen, Hespos oder Rihm waren unter anderem schon hier. In diesem Jahr war Mauricio Kagel gekommen. Die sogenannte ernste Musik wird oft viel zu ernst genommen. Allzuoft wirkt sie dadurch völlig komisch“, betont Mauricio Kagel im Weingartener Workshop. Sichtlich fühlt er sich in seinem Element, wenn er solches den staunenden Zuhörern erklärt. „Die Volksmusik hingegen ist sehr ernst zu nehmen, denn immer war sie in der Musikgeschichte für die Rettung zuständig, wenn sich die gehobene Musik stilistisch festgefressen hatte.“ Teodoro Anzellotti lächelt hinter seinem Akkordeon. Ihn hatte Kagel als Beispielgeber zu seinem Workshop ausgewählt – oder besser sein Instrument, das für den Komponisten geradezu zum Symbol eines erniedrigten Musikinstruments geworden ist. Es trage die Maske der unterhaltenden Leichtigkeit und so wirke es, hätte es Trauriges zu verkünden, geradezu wie ein Clown, der Tragik hinter der lachenden Fassade verbirgt. Seit mehr als vier Jahrzehnten zog Mauricio Kagel aus, um solchen Widersinnigkeiten in unserem Musikleben nachzuspüren. Widersinnig, das ist etwa ein Musiklexikon, in dem beim Buchstaben „R“ ein Ragtime neben der Rosalie (die platte Sequenzbildung, auch als Schusterfleck bekannt) steht und in das auch noch Rossignols enrhumés (verschnupfte Nachtigallen) einzumogeln sind. Das sind aber auch das weibliche Geschlecht der Harfe und das männliche Gebaren des Saxophons, ein „Unguis incarnatus“ mit fleischgewordener Attitüde des eingewachsenen Nagels, oder der sinistre Klangwolf, der als Dämpfer über den Geigensteg gesteckt wird, „damit die Geiger durch eine von ihnen nicht gestörte Umwelt, ungestört üben können“. Auch den Himmelsrichtungen mag man Widersprüchliches abgewinnen. Für den Argentinier war der Norden warm und tropisch, während der Süden aufs Arktische zusteuerte. Zur restlosen Verwirrung schrieb er zwischen 1988 und 1994 acht Windrosenstücke für Salonorchester zu allen Haupt- und Nebenhimmelsrichtungen, wobei der Ausgangsstandort immer wieder gewechselt wurde. Mit diesen und weiteren Werken dokumentierten neben Anzellotti Musiker der MusikFabrik NRW die Schaffensentwicklung Kagels in den letzten 25 Jahren. Unwidersprochen wurde dieser Prozeß in Kreisen der Kritik keineswegs hingenommen. Beklagt wurde, daß Kagel die gesellschaftskritische Radikalität seiner frühen Stücke vom Anti-Wissenschaftler-Stück „Sur Scène“ über die Beethovenfeier-Groteske „Ludwig van“ bis zur Anti-Oper „Staatstheater“ einem allzu einfach humororientierten Aspekt geopfert habe. Wirklich lassen sich Verschiebungen ausmachen. Kagels schöpferisches Interesse wandte sich – keineswegs aber in einem linear ungebrochenen Prozeß – immer häufiger konkret musiksprachlichen Problembereichen zu. Immer häufiger wendet er den Begriff „absolute Musik“ auf seine Stücke an – freilich wäre es nicht Kagel, wenn dies Absolute nicht mit einer gehörigen Untermengung von Relativierendem daherkäme. Urteile und Vorurteile, die sich in bezug auf Gattungen, auf Standards, auf die Musik konkretisierende Wendungen ausbildeten, werden zur Reibefläche. Die gerade in Donaueschingen vorgestellten Orchesteretüden markieren diese Entwicklung. Kagel zieht gleichsam Derivate aus den Musiken und rettet ihren Jargon in eine fremde Umgebung. Die große über 20minütige Klavier-Rhapsodie „Passé composé“ von 1992/92 etwa verfängt sich so sehr im rhapsodischen Geist mit allen seinen Eruptionen, Schweifungen und partiellen Stillhalteabkommen, daß die zeitliche Orientierung sich labyrinthisch verläuft. Am Ende des Stücks spielt ein erwiesenermaßen hifi-untaugliches Aufnahmegerät dem erschöpften Interpreten noch einmal eine stille Passage vor, die das Feuer des Spiels längst ins Vergessen drückte. Langsam wölbt sich in Weingarten ein Horizont der Neuen Musik. Auf diesem durfte Kagel selbstverständlich nicht fehlen. Denn er entgrenzte auf unverwechselbare Weise dieses Gewölbe – und dahinter ist auch neue, freilich andere Musik. Die Weingartener Tage aber wiesen nach, wieviel Mühe und Gedankenanstrengung hinter einer Musik stehen, die sich nach außen scheinbar humorig lässig gibt. Reinhard Schulz

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