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Hagen Matzeit, Kathrin Zukowski. Foto: Matthias Jung

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Wo Tragödie versagt, hilft Groteske – Ondřej Adámeks „INES“ an der Oper Köln uraufgeführt

Vorspann / Teaser

Ein Teil des Gürzenich-Orchesters hat bereits die Plätze eingenommen und das Licht wird gedimmt. Nun sollte das Publikum langsam aber sicher still werden. Doch scheinbar unbeeindruckt plaudert man munter weiter. In Wirklichkeit dringt das Stimmengewirr aber längst aus Lautsprechern und führen vereinzelt verständliche Worte mitten ins Geschehen: „Unfall“, „schwerer Störfall“, „Katastrophe“. Die unsichtbare Sprache wandert weiter in den Chor der Oper Köln und die dystopische Bühnenlandschaft, die Patricia Talacko aus vielen hunderten weißer Müllsäcken gebildet hat, wie sie nach dem Super-GAU von Fukushima 2011 für radioaktiv verstrahltes Material genutzt wurden.

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Der Titel „INES“ der zweiten gemeinsamen Oper von Komponist Ondřej Adámek und Librettistin Katharina Schmitt ist kein weiblicher Vorname, sondern die Abkürzung für die „International Nuclear and Radiological Event Scale“ zur Klassifikation von Störfällen in Kernkraftwerken. Das während der Corona-Pandemie geschriebene Textbuch erhielt im Zuge des 2022 entfesselten russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eine erschreckende Aktualität durch Gefechte um das Kernkraftwerk Saporischschja und die Drohung des Kreml mit Atomschlägen. Zudem werden aktuell Atomwaffensysteme modernisiert, ausgebaut, sind weltweit rund zehntausend Nuklearsprengköpfe einsatzbereit und fünfhundert Kernkraftwerke in Betrieb. 

Doch wie macht man daraus eine Oper? Wie inszeniert man einen Super-GAU? Wie klingt letale Strahlenkrankheit? Wie besingt man den Atomtod? 

Der selbst dirigierende tschechische Musiker und die selbst Regie führende Autorin zielen in ihrem für den weitläufigen Saal 3 des Kölner Staatenhauses entwickelten Text-, Musik- und Regiekonzept nicht auf dramatischen Realismus, sondern epische Verfremdung. Eindrücklich motivieren sie den Übergang von stotterndem Sprechen zum Singen als Ausdruck von Gefühl, Erinnerung, Trauma und körperlicher Auflösung.

Wie der Chor der antiken Tragödie treten zwischen „Prolog und fünf Bildern“ immer wieder drei Männer in Schutzanzügen vor das Publikum (David Howes, George Ziwziwadze, Lasha Ziwziwadze). Das Trio verkündet und kommentiert das Schicksal von Orpheus und Eurydike mit barockartigen Melismen wie aus Claudio Monteverdis Oper „LʼOrfeo“. Nach einer Kernexplosion irrt O auf der Suche nach der zum Schatten gewordenen E durch die verwüstete Welt. Wie Menschen und Natur zerfallen auch Sprache und Musik. Als sich selbst fremd gewordener mythischer Sänger wechselt Hagen Matzeit virtuos zwischen Bariton und Countertenor. Ebenso artifiziell wie expressiv stottert er von Pausen durchbrochen Phoneme, Silben, Atem- und Zischlaute. Sein Gesang rührt nicht Tod und Steine zu Tränen, sondern ist selbst erstorben und versteinert. 

Die von Sopranistin Kathrin Zukowski ausgezeichnet gesungene und gespielte weibliche Hauptrolle spaltet sich – vom Atomblitz getroffen – zum Vokalquartett auf. Dalia Schaechter schildert in der Rolle einer Radiologin die Auswirkungen der tödlichen Strahlendosis mit allen scheußlichen Details. Dem physischen Zerfall Eurydikes entspricht die elektronische Verstärkung ihrer und aller anderen Stimmen, die durch Lautsprecher von den Körpern gelöst und gleichsam atomisiert erscheinen. Erst im Sterben singt Eurydike eine geradezu klassische Opernarie mit wunderbar hellem Belcanto als Inbegriff körperlos reiner Schönheit und Transzendenz.

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Hagen Matzeit, Kathrin Zukowski © Matthias Jung

Hagen Matzeit, Kathrin Zukowski © Matthias Jung

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Statt Dialog und Handlung überwiegen Nacherzählungen, medizinische Befunde und Aufzählungen von Atomunfällen der INES-Stufen 1 bis 7 seit Beginn der zivilen Nutzung der Kernenergie 1951. Chor und Orchester beschränken sich zunächst auf untergründiges Pochen, Tinnitus-artiges Pfeifen und die galoppierenden Punktierungen aus Monteverdis berühmter Toccata-Ouvertüre als nervösem Leitmotiv. Weil der Apokalypse künstlerisch ohnehin nicht beizukommen ist, wenden sie Partitur, Text und Inszenierung ins Absurde. Statt wirklich zu überfallen, deutet ein Schlagzeuggewitter die Kernexplosion nur an. Und die kunstvoll verwobenen Partien der drei Eurydike-Doppelgängerinnen (Olga Siemieńczuk, Tara Khozein, Alina König Rannenberg) singen als „Girls from Hiroshima“ kein pathetisches Lamento über den Atombombenabruf 1945, sondern liefern als kesse Swingle-Sisters mit übertrieben „strahlendem“ Grinsen im Gesicht eine jazzige Showeinlage. Wo Tragödie versagt, hilft Groteske.

Der von Rustam Samedov geleitete Chor der Oper Köln schafft anfangs eine Atmosphäre aus wispernden Geisterstimmen. Erst im Laufe der eindreiviertel Stunden übernimmt das Kollektiv musikalisch und szenisch eine tragende Rolle. Es symbolisiert alle Menschen, die seit 1945 durch nukleare Bomben und Katastrophen ums Leben kamen. Als Gewissen der Menschheit steigert der Chor immer schneller und lauter die litaneiartig heruntergebetete Genealogie vom Homo erectus zum Homo neanderthalensis, die zu Anfang Eurydike als Mitarbeiterin im Naturhistorischen Museums ins Diktaphon sprach. Die ekstatische Kulmination feiert den Homo sapiens jedoch nicht als Gipfel der Schöpfung, sondern entlarvt bloß die Dummheit der sich selbst als „verständig“ überschätzenden Spezies, die schlicht zu blöde ist, um zu erkennen, dass sie ihre eigenen Lebensgrundlagen vernichtet. Der Klagechor der Atomopfer wird zur Selbstanklage der Menschheit, die Orpheus mit düsterer Prophezeiung noch zuspitzt: „Geht weg! Sterbt aus!“. In Anlehnung an „The Cold Song“ aus Henry Purcells Oper „King Arthur“ schraubt er seinen stockenden Gesang silbenweise ins höchste Falsett als Ausdruck seelischer Erstarrung inmitten des atomaren Winters, der sich über die Erde gelegt hat.

Ohnehin längst fragmentiert, verstummen Musik und Sprache am Ende vollends. Damit das Stück jedoch nicht in totaler Beklemmung und Hoffnungslosigkeit schließt, rennt plötzlich noch ein junges Mädchen durch die verödete Szene wie eine an das Publikum gerichtete Mahnung: Haben wir wirklich noch so viel Zeit, die Rettung der Welt einmal mehr der nächsten Generation zu überlassen?

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