Den widrigen Bedingungen zum Trotz hat das neue Kammermusikfestival Regensburg einen beachtlichen Start hingelegt. Die stilistischen Bögen waren weit gespannt, die Besetzungen hochkarätig. Juan Martin Koch zieht erfreut Bilanz:
Endlich mal wieder eine ordentliche Überdosis Musik! Nicht nur der Berichterstatter scheint es so empfunden zu haben, auch viele stets wiederkehrende Besucher in dieser letzten Septemberwoche waren offenbar wild entschlossen, ihre Akkus ordentlich mit Live-Klängen aufzuladen. Die Macher des neuen Regensburger Kammermusikfestivals, darunter der Geiger Benedikt Wiedmann und der Jazzpianist Lorenz Kellhuber, hatten ein ambitioniertes, zum Teil genreübergreifendes Programm zusammengestellt und profitierten davon, dass die Konzerte schon vor Corona als jeweils rund einstündige Veranstaltungen ohne Pause konzipiert worden waren.
Saitengroove und Zeitgenössisches
So fiel neben kleineren Umbesetzungen nur das Gastspiel des „Oslo Fat String Quartet“ und damit eine für diese Kontrabassformation geplante Uraufführung der Pandemie zum Opfer. Was den Saitengroove angeht, so machte das Paranormal String Quartet seine Sache als Einspringer-Ensemble prima, bei der harmonischen Vielfältigkeit der Eigenkompositionen ist indes noch Luft nach oben. Zwei Nummern am Ende, nun zusammen mit Lorenz Kellhuber am Piano, erweiterten die Perspektiven hörbar.
Eine kleine Uraufführung gab’s trotzdem, die der anwesende Komponist Marshall MacDaniel beim Eröffnungskonzert mit sympathischer Offenheit als persönliche Antwort auf fehlende körperliche Nähe während des Lockdowns beschrieb: „A Prayer to touch“ (Gebet zum Anfassen) heißt das kurze, als Festivalauftrag entstandene Stück, in dem zunächst Konzertmeister Benedikt Wiedmann und später auch weitere Stimmen des Streichersatzes – nur gelegentlich von Spannungsklängen behelligt – in einer gut erfundenen elegischen Melodie schwelgen dürfen. Mehr Substanz hat MacDaniels gut zehn Jahre altes Cellokonzert, das sich im ersten Satz mit ansprechender Motorik in den neoklassizistischen Fahrwassern eines Strawinsky und Hindemith tummelt. Atmosphärisch dicht und mit zarten Dissonanzen schlägt der langsame Satz etwas nachdenklichere Töne an. Eine mehr und mehr zupackende Kadenz leitet in den phasenweise grimmigeren Finalsatz über, der dann aber wieder von einer köstlichen Passage im Stile eines Zeitlupen-Tango aufgelockert wird und sich brillant in einem huschenden Fugato auflöst. Der hörbar von einem Kenner des Instruments geschriebene Solopart war bei Emanuel Graf in kompetenten Händen. Der Solocellist des Bayerischen Staatsorchesters hatte sichtlich Spaß an der dankbaren Aufgabe und meisterte sie mit lässiger Selbstverständlichkeit.
Schwergewichtiges stand schließlich mit Richard Strauss‘ „Metamorphosen“ auf dem Programm, auch hier fabelhaft gespielt von der Camerata Goltz unter der Leitung von Stephan Zilias. Das aus Ehemaligen der legendären Frühförderklassen des Geigers und Pädagogen Conrad von der Goltz bestehende Streichorchester hatte sich pandemiebedingt mit großem Abstand aufgestellt. Das erwies sich nun als optisch passendes Pendant zur Aufteilung der 23 Solostreicher, deren immer wieder neu sich formierende Allianzen somit sichtbar wurden.
Kammermusik von Haydn bis Fauré
Kammermusik im engeren Sinne gab es dann im weiteren Verlauf: Das Fauré Quartett zelebrierte beide Klavierquartette seines Namensgebers in ausgefeilten und dennoch wie aus dem Moment heraus entstehenden Interpretationen. Das fabelhaft zupackende Barbican Quartet zeichnete einen Entwicklungsbogen der Gattung von der Klassik zur Romantik nach, von Haydns „Sonnenaufgang“ über Beethovens „Harfe“ bis zu Schuberts Quartettsatz als Zugabe. Hochkompetent stellte das Trio Rafale der jugendlich-ausufernden Frühfassung von Brahms’ Opus 8 (leider ohne Expositionswiederholung und damit den Fugenverzögerungseffekt verschenkend) dessen spätes c-Moll-Klaviertrio gegenüber. Schließlich spielte ein eigens zusammengestelltes, von der energiegeladenen Liza Ferschtman an der ersten Violine und dem betörenden Melodiker Andreas Schablas an der Klarinette angeführtes Ensemble zum Abschluss Schuberts Oktett mit herrlicher, gemeinsam atmender Elastizität.
Vokales, Konzertant-Theatrales, Improvisiertes
Vokale Kammermusik zum Niederknien steuerten die Sopranistin Sibylla Rubens (die auch einen Meisterkurs anbot), der Tenor Bernhard Berchthold und der unnachahmliche Gerold Huber am Klavier bei. Sie hatten Hugo Wolfs „Italienisches Liederbuch“ mit sinnfälliger Stimmzuteilung in eine Abfolge gebracht, in der die Lieder sich immer wieder zu kleinen Szenen fügten. Die Sänger wurden – ohne die vokalen Gattungsgrenzen zu überschreiten – zu Darstellern.
Veritables Musiktheater hätte die Aufführung von Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ ursprünglich werden sollen, doch auch in der von Michael Heuberger (vielleicht eine Spur zu humoristisch) als Sprecher allein getragenen Fassung entfaltete das Werk seine hintergründige Faszination. Benedikt Wiedmann brachte die Seele seiner Geige bewundernswert zum vibrieren.
Am Kontrabass dieser Aufführung stand mit Felix Henkelhausen ein Mitglied des Lorenz Kellhuber Trios. Dieses widmete sich an allen Festivalabenden zu späterer Stunde der freien Improvisation. Die Energie, die das von Kellhubers hypnotischem Pianospiel geprägte Kollektiv, angetrieben von der überbordenden rhythmisch-klanglichen Fantasie Moritz Baumgärtners und dem feinfühligen Mithören Henkelhausens, aufzubauen versteht, ist von faszinierender Folgerichtigkeit. Als hätten die knapp 45 Minuten nonstop nur so und nicht anders ablaufen können, so stellte sich der Spannungsbogen an den beiden Abenden dar, die der Autor miterleben durfte.
Vom 18. bis 26. September 2021 soll das zweite Kammermusikfestival Regensburg stattfinden, dann hoffentlich mit einem ähnlich gut ausbalancierten Programm und den ursprünglich schon für heuer geplanten Angeboten für Kinder und Jugendliche. Und natürlich: mit gut gefüllten Sälen!