Die letzte Premiere im Schiller-Theater brachte nicht wirklich etwas Neues. Als nunmehr wirklich letzte Premiere im großen Saal des Schiller-Theaters erntete die bereits zwei Jahre alte Koproduktion der Staatsoper Unter den Linden mit der Oper Stuttgart und dem Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel einen derartigen Jubel, wie er vergleichsweise nur nach besonders beliebten Strauss-Opern zu erleben ist.
Als Musiktheater-Vorlage hatte sich Georg Büchner bereits mehrfach, insbesondere mit „Wozzeck“ in den Vertonungen von Alban Berg und Manfred Gurlitt, bewährt, und der von Büchner in Persona behandelte Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinholz Lenz war im 20. Jahrhundert mit seinen „Soldaten“ bereits wiederholt zu Musiktheater-Ehren gelangt – durch Manfred Gurlitt und durch Bernd Alois Zimmermann.
Die Kombination beider musiktheaterträchtigen Dichter, Lenz in der Erzählung von Büchner, versprach doppelte Erfolgsgarantie, und tatsächlich hat sich Wolfgang Rihms Vertonung als Kammeroper seit der Uraufführung als eine der erfolgreichsten neuen Opern erwiesen.
In dreizehn Szenen entwirft der Komponist den Leidensweg des von Goethe wegen einer „Eselei“ aus Weimar verstoßenen Lenz, der sich im Gebirge unter dem Druck von Stimmen ins Wasser stürzt und zu Pfarrer Oberlin in eine Therapie begibt, am Ende aber in eine Zwangsjacke gesteckt wird.
Insbesondere kreisen Lenz’ innere Widersprüche im Libretto von Michael Fröhling um Goethes Ex-Freundin Friederike, die er begehrt hatte. Vergeblich bemüht er sich, sie – in Gestalt eines gestorbenen Kindes – zu neuem Leben zu erwecken. Ein Vokalsextett löst seine Bedrohungen aus, versetzt ihn in Aufruhr und Lähmung, wobei hier Gedichte von Lenz die textliche Vorlage bilden.
Was sich im Libretto wie eine Paraphrase auf „Wozzeck“ liest, hat Regisseurin Andrea Breth wie eine Fortsetzung ihrer Berliner „Wozzeck“-Inszenierung in Szene gesetzt. Etwas inadäquat zur Reduzierung des Instrumentariums auf nur 12 Spieler wirkt der opulente Raum von Martin Zehetgruber: in mehreren Ebenen werden die Szenen unterschiedlich bebildert, mit Spiegelwand, Gesteins- und Eisbrocken, Regalwand und überdimensionierten Stühlen. Mit einer Nebelwand zwischen den einzelnen Szenen und hinter Gazeschleier wird das Spiel dunkel entrückt, bis in der Schlussszene der Raum klinisch hell erstrahlt, – und dann erst ist auch die vordem ebenfalls verschleierte Übertitelung deutlich lesbar.
Die den Dichter umgebenden Personen, selbst der Pfarrer Oberlin (schulmeisterlich der Bassist Henry Waddington) und der das Leid des Freundes ironisierende „Genieapostel“ und Arzt Christoph Kaufmann (zynisch der Tenor John Graham-Hall) bleiben Staffage. Seit ihrer Uraufführung, 1979 in Hamburg, lebt diese Oper von der Verkörperung der Titelpartie, unvergesslich und in diversen Remakes der Uraufführungs-Lenz von Richard Salter, oder auch Barry Hanner in Nürnberg. Georg Nigl, der 2014 die Premiere an der Oper Stuttgart verkörpert hat, wurde dafür von der Zeitschrift „Opernwelt“ zum Sänger des Jahres gekürt. In der Tat ist die stimmliche Interpretation dieses Baritons ein Erlebnis, sein Changieren zwischen Sprechgesang und höchstem Diskant, seine Umbrüche zwischen Flüstern, Bellen und extremen psychotischen Ausbrüchen. Zwischen Schwimmübungen, als Exempel ins Regal geklemmt oder sich am ganzen Leib mit Kot beschmierend, intensiv und eigenwillig in der Diktion und mit kabarettistischer Überzeichnung vermag Nigl darstellerisch in dieser Partie noch stärker zu überzeugen denn als ein anderer Irrer in einer weiteren Oper von Rihm, dem Nietzsche im „Dionysos“ (in Salzburg und auch an der Berliner Staatsoper). Nur der Todessturz wird einem Artisten als Double (Martin Bukovsek) übertragen, der als Antizipation bereits zu Beginn der Handlung aus dem Schürboden in einer Zwangsjacke auf den Bodenboden stürzt – einer der eindrucksstärksten Effekte in dieser Inszenierung.
Alle Sängerdarsteller, auch die des Vokalsextetts, sind mit der Produktion nach Berlin gekommen. Nur die Instrumentalisten der Staatskapelle Berlin – mit Holz, Blech, drei Violoncelli, Cembalo und viel Schlagwerk, darunter einem „grell klingende[n] Amboss“, haben die Partitur unter der Leitung von David Robert Coleman und Markus Appelt neu einstudiert. Sie transportieren Rihms Partitur mit ihrem Beziehungsreichtum zu tradierten Formen, wie Rondo, Sarabande, Ländler und Arie, im halbhoch gefahrenen Orchestergraben sehr luzide. Als Leitakkord für seine Titelfigur hat Rihm den Diabolus in Musica gesteigert zu einem Tritonus plus kleine Sekunde. Dirigent Franck Ollu begleitet die Sänger und pointiert die charakterisierenden Momente von Rihms Partitur mit ihrer eigenartigen Durchdringung von Tonalität und Atonalität. Diese charakterisiert die Selbstmordabsicht des Dichters, „Von nun an die Sonne in Trauer, von nun an finster der Tag!“, als den Höhepunkt seines Wahnsinns, in verführerisch tonalen Klängen.
Nach 76 Minuten Aufführungsdauer jubelte das Premierenpublikum im nicht bis auf den letzten Platz besetzten Schiller-Theater allen Beteiligten zu, darunter auch der Regisseurin, die für diese Arbeit im Jahre 2015 den FAUST-Preis erhalten hatte. Nur der schon länger erkrankte Komponist fehlte in der Riege.
- Weitere Aufführungen: 8., 10., 12. und 14. Juli 2017.