So manches altehrwürdige Kultur- und Musikfestival muss sich mittlerweile mit einem unkonventionell orientierten Gegenfestival auseinandersetzen. Für die Bregenzer Festspiele gilt das nicht. Denn erstens sorgt das 1946 gegründete Festival seit Jahren durch zahlreiche Farbtupfer im Hauptprogramm – wie beispielsweise die modernen und selten zu hörenden Opernproduktionen im Festspielhaus – für ein eigenes Gegengewicht zu den zwar oft kreativ, aber doch eher traditionell geprägten Inszenierungen der Musiktheaterwerke auf der riesigen Seebühne. Und zweitens haben die Bregenzer Festspiele die Schiene „Kunst aus der Zeit“, kurz „KAZ“ genannt, die seit 2001 unter anderem auch durch die Zusammenarbeit mit dem Hamburger Thalia Theater progressive Akzente setzt.
Die Reihe machte schon durch zahlreiche Cross-Over-Veranstaltungen von sich reden und bot auch 2009 – nun zum ersten Mal unter der Handschrift der künstlerischen Leiterin Laura Berman – wieder eine Vielzahl von innovativen Aspekten. Von einer Prozession für Bläser-Septett, Jazz Big Band und drei Blaskapellen aus der Feder des Komponisten Moritz Eggert über zahlreiche zeitgenössische Musiktheaterwerke bis hin zu Performances multimedial ausgerichteter Laptop-Künstler reichte heuer die Palette.
Eine typisch innovative Produktion der „KAZ“-Reihe konnte man am 12. und 13. August erleben. Denn wenn das Berliner Musiktheater- und Tanz- theaterensemble „Nico and the Navigators“ auf die österreichische Musicbanda „Franui“ trifft, dann entsteht immer etwas faszinierend Außergewöhnliches, das irgendwo im orbitalen Raum zwischen Musiktheater, Tanztheater und Konzert oszilliert und damit wirklich in keine Schublade passt. Das wurde bereits in der Produktion „Wo du nicht bist“ auf beeindruckende Art deutlich, mit der die beiden Ensembles im Jahre 2006 im Rahmen der „KAZ“-Schiene bei den Bregenzer Festspielen gastierten.
„Anaesthesia“ heißt nun der neueste Wurf dieser fruchtbaren Zusammenarbeit. Die Produktion erlebte ihre Uraufführung im Juni 2009 bei den Händel-Festspielen in Halle und war nun auf der Werkstattbühne des Bregenzer Festspielhauses zu erleben. Von Beginn an wurde deutlich, dass die Zusammenarbeit zwischen der Konzeptionistin, Regisseurin und Choreografin Nicola Hübner und den musikalischen Leitern und Bearbeitern Markus Kraler und Andreas Schett auch dieses Mal ein Werk hervorbrachte, das auf höchstem künstlerischen Niveau anzusiedeln ist und von Kreativität und künstlerischer Innovation beseelt ist, aber dabei nie Gefahr läuft, in plumpe avantgardistische Klischees zu verfallen.
Im Händel-Jahr schufen Hübner, Kraler und Schett mit dieser Produktion eine Pasticcio-Oper, die 32 Auszüge aus 24 verschiedenen Bühnenwerken Georg Friedrich Händels aufweist und sich damit als eine Kette von musikalischen Höhepunkten des bekannten, 1759 verstorbenen Barockmeisters präsentiert. Übrigens wandte Händel diese zugegebenermaßen etwas populistische Technik als Opernunternehmer in London selbst gerne an.
Aber natürlich drückt die Musicbanda „Franui“ den Arien, Duetten, Terzetten, Rezitativen, Chornummern und Instrumentalstücken ihren ganz eigenen Stempel auf und so mutiert manch barocker Generalbass durch ein grooviges Pizzicato des Kontrabasses in eine swingend-jazzige Walking-Line oder so avanciert manche Arie durch Elemente der Salonmusik, des Jazz, der Volksmusik oder des Klezmer zu einem weltmusikalischen Kleinod. Man erlebt auch klangfarbliche Erweiterungen mit ungewöhnlichen Besetzungen wie Hackbrett im Generalbass oder das Miteinbeziehen von Gitarre, Akkordeon oder Altsaxophon.
Nicola Hübner schuf dazu für die Bühnenakteure ein Bewegungskonzept, das eine faszinierende Grundstruktur vorweist und mit raffinierten und köstlich satirisch-humoristischen Details nicht geizt. Ein Moderator aus der Barockzeit moderiert im Dandy-Stil die zuweilen bis ins Groteske überzeichneten zwischenmenschlichen Szenen, die eine bis in die Fingerspitzen ausgereifte Choreografie aufweisen und in ihrer suitenartigen Zusammenstellung trotz des Fehlens einer linearen Handlung nachvollziehbare Spannungsbögen entstehen lassen.
Dabei verblüffen immer wieder Details wie der Kopf nach unten von der Decke hängende nackte Oberkörper des singenden Baritons Clemens
Koelbl oder die Schauspiel- und Tanzkünste des Countertenors Terry Wey und der Sopranistin Theresa Dlouhy. Großes Lob gebührt aber allen Bühnenakteuren für die ausdrucksstarke Ausführung – und zum Teil auch selbständige Anlegung – ihrer Parts und nochmals Nicola Hübner, die auch die zwischen griechischer Antike, Barock und Moderne pendelnden Kostüme geschaffen hat.
Man erlebte einen genreübergreifenden, tragikomischen, interkulturellen und unkonventionellen Musiktheaterabend, der sehr positiv im Gedächtnis bleiben wird.