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“The Language of the Future”. Laurie Anderson in der Lichtburg, Essen. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale 2018
“The Language of the Future”. Laurie Anderson in der Lichtburg, Essen. Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker/Ruhrtriennale 2018.
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Zehn Sekunden Urschrei: Laurie Anderson bei der Ruhrtriennale

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Laurie Anderson hat sich immer wieder neu und anders eingemischt. Jedes ihrer kreativen Erzeugnisse bekommt meist schon vorab den erhabenen Kunstfaktor zuerkannt. Auch ihre jüngste CD-Veröffentlichung mit dem Kronos-Quartett kündet von einem produktiven Sich-Neuerfinden. Da konnte auch mal falsch liegen, wer mit zu viel aufgetürmter Erwartungshaltung einen Soloabend mit der gefeierten Gesamtkunstwerks-Spezialistin im Rahmen der Ruhrtriennale besuchte.

Wer opulente Musik und Soundcollage zu ihrem unerschöpflichen Storytelling erwartet hatte, lag eindeutig falsch. Und das ist schade – könnte doch Andersons „typische“ Vereinigung von spoken word poetry und empfindsamem Musikdesign gerade auf einer so exquisiten Live-Bühne wie der Essener Lichtburg Berge versetzen! Dafür kam die Wahl-New Yorkerin ihrem Publikum auf andere Weise nah.

Sie liest, reflektiert, plaudert, redet Klartext – ganz pur, ganz sie selbst. Ohne Inszenierung. Durchaus gibt es auch Musik – etwa, wenn sie verhallte Arpeggien auf ihrer elektrifizierten Violine in den Raum schickt. Solche Zwischenspiele wirken aber etwas verloren, da sie nicht wie sonst in die Gestaltung des Sprachflusses einbezogen sind. Manchmal spielt sie durch „Vermännlichung“ ihrer Stimmlage mittels eines Vocoders mit Gender-Konnotationen, gibt später auch mal eine Art Tai-Chi-Einlage zum besten. Ansonsten grundiert meist nur ein einzelner Hintergrundton ihren Erzähl- und Redefluss – wenn überhaupt.

Loslassen kann auch eine Tugend sein

Klar wird: Nicht das „Wie“, sondern das „Was“ steht an diesem Abend dafür im Zentrum. Es ist das eigene Leben, die Gegenwart, die zu Anekdoten, Aphorismen, Reflexionen inspiriert. Es braucht wohl diese typisch lakonische Art, um alles, was ständig um sie und jeden einzelnen passiert, zu absorbieren. Loslassen kann auch eine Tugend sein. Sie selbst war unlängst dazu gezwungen, als eine Flut in Lower Manhattan ihre Räumlichkeiten unter Wasser setzte und damit viele Kunstwerke und Equipment zerstörte. Was soll‘s? Dann braucht künftig eben nicht mehr der Keller aufgeräumt werden. Was im Leben hängt schon von Dingen ab?

Laurie Andersons abgeklärte Gelassenheit, die ein gereifter Lebensabschnitt hervorbringt, hat etwas Ansteckendes. Weise ist, wer sich den Blick für alles Poetische erhält, was nahezu jeder Erfahrung anhaften kann. Auch wenn vieles, was heute die Welt in Aufruhr versetzt, nur noch Schreikrämpfe verursachen kann. Sie, die auch mit Yoko Ono gut bekannt war, belebt zusammen mit dem Essener Publikum jenen rituellen Urschrei neu, den diese schon im Jahr 1971 zum Gegenstand eines Konzerthappenings machte und der zum Amtsantritt Donald Trumps eine wohlverdiente Neuauflage erfuhr. Was alle Donald Trumps und mehr noch deren zahllose gemütsstumpfe Erfüllungsgehilfen heute anzetteln, gibt einem solchen Gefühlsausbruch auch an diesem spätsommerlichen Septemberabend in der Essener Lichtburg Nahrung genug. Zehn Sekunden müssen für den Urschrei reichen – und alle machen mit! Was lautstark belegt, wie sehr das Publikum auf Laurie Andersons Seite ist.

Sie ist und bleibt eine politische Figur

Sie ist und bleibt eine politische Figur – woran sich so viele aus der jüngeren Generation eine Scheibe abschneiden können, wo gerne auch wieder ein angepasster Rückzug ins rein-artifizielle beliebt ist. Wo bleibt Kunst, um demokratischen Erosionsprozessen etwas entgegen zu stellen und manchmal auch zu schreien? Eine der vielen Hintergrundprojektionen über der Bühne zeigt, wie es aussehen könnte, wenn wir alle Dinge auf dem Planeten so weiterlaufen lassen: In New York City klaffen nur noch die Ruinen sämtlicher Wolkenkratzer als ein riesiger „Komplett-Ground-Zero“.

Könnte Politik nicht auch mal wieder mehr mit Poesie zu tun haben, mit der gesellschaftliche Gruppen einander begegnen? Sehr unwirkliche Vorstellung im heute – siehe oben. Laurie Anderson erzählt von einem feinsinnigen Gedankenaustausch zwischen ihr und Präsident Kennedy – einer Lichtgestalt in Sachen hoffnungsvoller politischer Kultur.

Bei aller tiefen Reflexion windet Laurie Anderson sich also keineswegs in einseitiger Aporie. Skuriller Humor und die Kraft der Liebe stehen dem entgegen. Was Menschen untereinander und füreinander sind, wie sie einander Halt geben, darüber redet sie so, dass man es unterschreiben möchte. Auch und gerade, wenn sie mit fragilem Feingefühl den menschlichen Verlust beschreibt, den ihr Lebenspartner Lou Reed hinterlassen hat und damit eine kommunikative Lebensader versiegt ist.

Diese selbstbewusste abgeklärte Frau sagt irrsinnig viel an diesem Abend. Aber sie darf das, weil es so viel zu sagen gibt. Die gewählte Reduktion auf die nackte Sprachlichkeit an diesem Abend machte Laurie Anderson zwar nur unzureichend als Musikerin, dafür umso mehr als Mensch und eben nicht nur als Avantgarde-Ikone wahrnehmbar. Dafür wurde ihr schließlich ein ehrlicher, verdienter Applaus entgegengebracht.

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