Das Stuttgarter Festival Eclat hatte es mit beeindruckender Konsequenz und inhaltlicher Fülle im Februar vorgemacht. Nun hat auch die Berliner MaerzMusik im Angesicht einer weiterhin publikumslosen Gegenwart ihre Inhalte komplett ins Netz gehievt und wurde 2021 zum „Festival on Demand“, das in Live-Events oder vorproduzierten Beiträgen diesmal programmatisch weit über den europäischen Tellerrand hinausblickte. Film wurde dabei nicht nur als dokumentarischer Träger des Musikgeschehens eingesetzt, sondern regelmäßig zum eigenständigen künstlerischen Medium.
Ganz existentiell drückte die Pandemie dem Eröffnungsprojekt „Environment“ ihren Stempel auf, in dem das Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN) aus Bolivien der musikalische Dreh- und Angelpunkt war. Es verbrachte im Rahmen der Vorbereitungen zur abgesagten MaerzMusik des vergangenen Jahres 84 unfreiwillige Quarantäne-Tage in der Musikakademie Rheinsberg, zusammen mit dem Vokalensemble PHØNIX16. Die musikalische Begegnung fand ihren Niederschlag in einem gemeinsamen Bühnenprojekt, das von (verwirrend zahlreichen) Videoproduktionen flankiert war, die ein Leben im Ausnahmezustand aus verschiedenen Perspektiven beleuchteten.
Thema Umwelt
Zwei Interview-Anthologien widmeten sich individuellen Auffassungen von „Umwelt“ (Katja Heldt) und der Bedeutung des indigenen Instrumentariums des bolivianischen Ensembles (Sonia Lescène); das Leben und Arbeiten der isolierten Musiker*innen dokumentierten Timo Kreuser und Sonia Lescène gleich in mehreren, nicht immer anregenden Filmproduktionen, die ausgiebige Improvisations-Sessions begleiteten. Der künstlerische Höhepunkt war allerdings das fast dreistündige Live-Konzert von PHØNIX16 und noiserkroiser (das OEIN konnte diesmal leider nur per Tapezuspielung anwesend sein), dessen visuelle und klangliche Ambivalenzen zwischen Abstraktion und Konkretheit, Technik und Naturlaut von einer 360°-Surround-Kamera eingefangen wurden. Eine Performance, die gerade in ihren Schwellenmomenten und Zwischenräumen bemerkenswerte Dichte entwickeln konnte und deren klangmassiertes Zentrum in völliger Dunkelheit stattfand, um schließlich (optisch wie klanglich) im weißen Rauschen zu enden.
Für überraschende Entdeckungen von Künstler*innen, die durch die Raster der europäischen Musikgeschichtsschreibung gefallen sind, war die MaerzMusik immer gut: Besonders im Fokus stand diesjährig der bemerkenswert vielseitige und dennoch in Europa praktisch unbekannt gebliebene ägyptisch-amerikanische Musiker, Komponist und Musikologe Halim El-Dabh (1921–2017). Er wurde in Zusammenarbeit mit SAVVY Contemporary in mehreren Veranstaltungen ausführlich gewürdigt: Das Konzert des Zafraan-Ensembles veranschaulichte in lebendigen Interpretationen wechselnder Kammermusikformate eine große stilistische Bandbreite zwischen früher Bartók-Affinität und späterer Reflexion volksmusikalischer, ritueller Traditionen Nordafrikas. Schade, dass der mit Spannung erwartete Blick auf die elektroakustische Seite von El-Dabhs Komponieren in der Listening Session entfallen musste. Signifikanter für die Veranschaulichung einer ausgeprägt spirituellen Ideenwelt, die sich in enger Verbindung mit dem Visuellen entfaltete und sich weder um Material- noch um Genregrenzen kümmerte, war die interdisziplinäre Hommage unter dem Motto „Invocations“ mit instruktiven O-Tönen, Filmdokus, Vorträgen und Panels, Tanzperformances und intensiven Uraufführungen/Improvisationen von Sofia Jernberg, Mazen Kerbaj & Ute Wassermann, Mena Mark Hanna, Jessie Cox, Wu Wei und Nicola Hein, Jessica Ekomane und Magda Mayas. Sie umkreisten die Vielgestaltigkeit von Halim El-Dabhs Wirken instrumental, vokal und elektronisch mal mehr, mal weniger aufregend.
Einen Glanzpunkt des Festivals markierte eine weitere Unbekannte auf dem Terrain deutschsprachiger Neue-Musik-Rezeption: Éliane Radigue. Das Portrait „Échos“ (2021) von Eléonore Huisse und François J. Bonnet vermittelte die ästhetischen Maximen der Grande Dame der elektronischen Musik so kompakt wie poetisch. Ein Kurzfilm von 30 Minuten, der das Kunststück fertig brachte, eine abendfüllende Ruhe und Gedankentiefe auszustrahlen: „Ich überlasse es den Hörern gern, in sich ihre eigene Musik zu finden, anhand der Klänge, die ich anbiete.“ Nun, was die französische Elektro-Pionierin da „anbot“, war ein „innerer Reichtum“ sanft bewegter Klangkontinuen, der so manchen „Ambient“-Frickler dieser Tage vor Neid erblassen lassen würde. Dies wurde besonders evident in der Aufführung der dreistündigen „Trilogie de la Mort“ (1988–93) in der Kuppel des Zeiss Großplanetariums durch François J. Bonnet. Ein Meilenstein des elektronischen Minimalismus, der, inspiriert von buddhistischen Schriften, als eine Klangmeditation in drei irisierenden Kapiteln über Tod und Leben sinniert, beeindruckend in seiner strukturellen Konsequenz und klanglichen Aura. Man merkte in manch düsteren Pulsationen und zitternden Drones, dass Bonnet aus dem Techno-Zeitalter in diese synthetische Klang-Séance zurückblickte, die immer wieder verborgene Melodien und Harmonien heraufbeschwor.
Dass dieses Radigue-Portrait aber nicht als Retrospektive gedacht war, verdankte sich nicht zuletzt der Tatsache, dass die inzwischen 89-jährige Komponistin einfach immer weiterarbeitet: Ihr aktuelles Streichquartett „Occa Delta XV“ (2018) ermöglichte in einer „Binauralen Audioproduktion“ vom Quatuor Bozzini in Montreal neun verschiedene räumliche Hörperspektiven (die sich allerdings nur unmerklich unterschieden). Prinzipien einer sublim fluktuierenden Regungslosigkeit, hier inspiriert vom mythischen Ozean aus David Duncans Science-Fiction-Roman „Occam’s Razor“, brachte dennoch ein Klanggeschehen von wachsender Dichte und Intensität hervor. Dass raumgreifend kontemplative Monochromien bei der MaerzMusik 2021 hoch im Kurs standen, bewies das Bozzini-Quartett ein zweites Mal mit dem 4. Streichquartett des Schweizer Komponisten Jürg Frey (UA), das wie ein mikrotonaler Choral mit Dämpfer und viel Bogenholz in Superzeitlupe daherkam.
Einen durchaus angenehmen Kontrapunkt zur verdichteten Innerlichkeit der akustischen Großleinwände setzte der Abend mit Bang on a Can, die im Rahmen eines vierstündigen Live-Events aus New York ein heterogenes Musik-Sammelsurium präsentierten, das insgesamt eine sympathische Intimität und Unaufgeregtheit ausstrahlte. In den zahlreichen solistischen Darbietungen wurden geläufige Klischees des Post-Minimalismus erfreulich selten breitgetreten, stattdessen gab es Improvisatorisch-Experimentelles (MazzSwift, Miya Masaoka), Elektronisches (Arnold Dreyblatt), trashige Game-Collagen (Rohan Chander), sphärisches Ambient mit Trompete (Adam Cuthbert), noisige Erkundungen des Klavieres (Tomeka Reid, Tyshan Sorey), eine fulminante Interpretation von Reichs „Vermont Counterpoint“ durch Claire Chase, prominentes Gitarrenspiel (Bill Frisell) oder erfrischende Entdeckungen, die Sound und Vokalperformance mischten wie Christina Wheeler oder die intensive Poetry von Moore Mother (quasi die Underground-Version von Amanda Gorman).
Ein interessanter thematischer Schwerpunkt des Festivals beschäftigte sich (leider nur in einem Konzert) mit einer Problematik , die erst seit der Wiederentdeckung Julius Eastmans auf der Tagesordnung steht: „Afro-Modernism in Contemporary Music“. George Lewis, momentan Fellow im Wissenschaftskolleg Berlin, hatte das Ganze sozusagen aus erster Hand konzipiert. Neben (wenig ergiebigen) Diskussionen zum Thema gab es ein spannendes Konzert des Ensemble Modern unter Leitung von Vimbayi Kaziboni, das mit Stücken von „People of Color“-Komponist*innen reich bestückt war: Hannah Kendall, Jessie Cox, Daniel Kidane, Alvin Singleton, Andile Khumalo und Tania León. Explizit „afroamerikanische“ Referenzen oder Problemstellungen schienen diese Ensemblestücke aber kaum zu transportieren. Stattdessen fiel zwischen klangfreudiger Freisetzung musikantischer Energien, instrumentalen Geräuschtexturen und beinahe filmischen, mit Jazz- und Pop-Anleihen ausstaffierten Narrativen eine denkbar große Bandbreite der Ausdrucksformen auf. Das führte bezeichnenderweise oft auch innerhalb der einzelnen Kompositionen zu überraschenden Wendungen und Perspektivwechseln.
time.cage
Eine weitere interessante Uraufführung verdankte sich Manuel R. Valenzuelas „time.cage“, ein Stück für Solo-Schlagzeuger und Ensemble, dem es zwischen Reizüberflutung und Stille, Hochgeschwindigkeit und Ereignislosigkeit um grundlegende Wahrnehmungen von Zeit im Modus des Eingeschlossen-Seins zu tun war. Das Ensemble Mosaik stand dabei in den Spreehallen Berlin mit sprunghaften und polystilistischen Instrumentaltexturen im impulsiven Dialog mit einem „eingesperrten“ Perkussionisten, der ein verstärktes Sammelsurium selbstgebauter Objekte zu bedienen hatte.
Die MaerzMusik ist bekanntermaßen ein diskursfreudiges Festival. Kaum zu erwähnen, dass die Pandemie-Ausgabe ihre Besucher*innen besonders reichlich mit Lectures und Diskussionsrunden zu global virulenten, aber auch dezidiert esoterisch daherkommenden Themen versorgte: Zum traditionellen Symposium „Thinking Together“ lud diesmal „The Political Kitchen“ und widmete sich explizit den sozialen Verwerfungen und künstlerischen Bedingungen der Pandemie.
„Pacha Nete“ nannte sich ein „zeremonieller Workshop“, wo die peruanischen Künstler*innen Arely Amaut Gomez Sanchez und Milke Sinuiri Panduro Einblicke in Wissens- und Bewusstseinsformen der Anden und des Amazonas vermittelten.
Im GROUNDWERK beschäftigte sich eine experimentelle Arbeitsgruppe mit „Future Worldlings“ und „Reproduktive Futures“ in Form von „Analysen, Meditationen, Resonanzräumen, Storytelling, Traumarbeit und Gesprächen.“
Virtueller Marathon
Normalerweise steht das Abschlusswochenende der MaerzMusik im Zeichen der ausufernden Gegenwart von „The Long Now“. Die Pandemie-Ausgabe ersetzte das raumgreifende Spektakel im Kraftwerk durch den virtuellen Marathon „TIMEPIECE“: Eine 27-stündige Zeitansage mit musikalischer Grundierung in Dauerschleife, die einer Monumentalisierung von Peter Ablingers „TIM Song. A Pop Song for a speaking voice and accompaniment“ (2012) gleichkam, das auf der automatischen Zeitansage der BBC beruht. Peter Ablinger hatte denn auch die Ehre, das Geschehen auf der Drehbühne im Haus der Festspiele zu eröffnen.
Es folgten statische und doch „wechselnde Landschaften aus Musik und Sprechstimmen“, die mit eindringlicher konzeptueller Konsequenz zugleich einen Spiegel der Pandemie (im blanken Vergehen der Zeit) und als kollektive Klang-Installation ein großes solidarisches „Trotzdem“ verkörperten, an dem mehr als 130 Mitwirkende beteiligt waren: als Sprecher*innen viele Beteiligte des Festivals, unter den globalen Klanglieferant*innen Baba Electronica, Marino Formenti, Ashley Fure, Michael Gordon, Les Percussions de Strasbourg, Phill Niblock & Katherine Liberovskaya, Eva Reiter, stock 11, Terre Thaemlitz, Myriam van Imshoot und viele andere.
Unterm Strich also eine durchaus ergiebige und unter den gegebenen Verhältnissen bemerkenswert kreative MaerzMusik mit einer fast schon erschlagenden Materialfülle im digitalen Raum. Die verdankt sich in Berlin traditionell einer Auffassung von Zeit als sich gegenseitig durchdringender Erfahrungsraum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auf der Ebene des Sinnlichen wurde dabei Polzers Affinität zu kontemplativen Marathon-Formaten, die alltägliche Zeitwahrnehmungen suspendieren, weiter beherzt forciert. Ob da nicht gelegentlich Sedierung statt Bewusstseinserweiterung einsetzt, wäre zu fragen.
Ebenfalls zu fragen ist, ob gerade die MaerzMusik nicht viel stärker (und nicht nur marginal) auf eine Generation junger Künstler*innen, Komponist*innen, Performer*innen zurückgreifen muss, die in diesem Land (mit naturgemäß internationalem Background) leben und arbeiten. Ein Festival, das sich als „Festival für Zeitfragen“ versteht, sollte mehr Lust an der diversen künstlerischen Transformation unmittelbarer Gegenwart entwickeln …