Das viertägige Festival war auch eine konzertierte Promotion. Ein Paukenschlag, mit der eine der freien Szenen Berlins die Aufmerksamkeit auf sich und ihr Wirken lenkte: vierzehn Uraufführungen, dreizehn Spielorte, rund einhundertzehn Beteiligte. Präsentierte sich hier eine weitere – aktuelle Variante – des Genres Musiktheater, neben etablierter Oper und Avantgardemusiktheater?
In der Tat ist die freie Musiktheaterszene in Berlin schnell gewachsen. Vor drei Jahren hat sie sich im Verein „Zeitgenössisches Musiktheater Berlin“ (ZMB) vernetzt, damit ihre Interessensvertretung organisiert und ein Forum für ästhetische und andere inhaltliche Fragen gegeben. Jetzt hat das ZMB das „Festival für aktuelles Musiktheater“ seiner Mitglieder kuratiert und getragen (alle Informationen zum Festival unter www.bam-berlin.org). Derzeit gehören zum ZMB achtzehn Ensembles (Musiktheater- und Musikgruppen) sowie zirka 50 Einzelpersonen aus den Metiers Performance, Komposition, Regie, Dramaturgie und Produktion.
Die Kunstformen, derer diese Musiktheaterszene sich bedient, kommt überwiegend aus der Performance. Dazu zählen auch Klanginstallationen, Performance Art, Alltagsperformance, Raumbespielungen bis hin zu Audio-Walk und anderen Orts-spezifischen Formaten. Man könnte sagen, im performativen Musiktheater sind zwei Entwicklungen aufeinander getroffen: einerseits die derzeit fast durchgängig anzutreffende Ausstattung des (Sprech-)Theaters mit musikalischen Versatzstücken, andererseits die spezifische Aufführungspraxis, Musik als Akt einer Performance aufzufassen beziehungsweise zu präsentieren (etwa durch Composer-Performer). Was wir vom herkömmlichen Musiktheater und der Oper her über das Phänomen Sängerdarsteller/-in (und Opernchor) kennen, nämlich die vollständige Verschmelzung von Theaterspiel mit Musik, wird zu einem der charakteristischen Merkmale des performativen Musiktheaters schlechthin: Wer im Bühnenraum agiert, ist gleichermaßen Musikerin wie Darsteller. Ebenso charakteristisch ist, dass die Formen des performativen Musiktheaters im Vorgang der Komposition ihren Ausgang haben. Fast alle Stücke des Festivals stammen von Komponisten zeitgenössischer Musik. Szenische Elemente sind Teil der Komposition; alles ist mit allem verkomponiert.
Diversifikation ist ein weiterer Marker dieses Theaters. Nicht von einer Definition, einem Gattungsbegriff oder einer institutionellen Genrebesetzung aus wird eine im weitesten Begriff szenische Aktion zum Musiktheater erklärt, sondern ausschließlich auf Grund einer wie auch immer gearteten Verbundenheit von „Klang und Theateraktion“. Dementsprechend vereinte das Festival Stücke unterschiedlichster Machart und Ästhetik: verschieden nach Kriterien wie Zeitdauer, Zeitorganisation und Komplexität von Vorgängen, verschieden nach Grad und Medium einer jeweiligen Immersion (also der Frage, wieweit Zuschauer sozusagen als Akteure in das jeweilige Geschehen eintauchen und so mehr oder weniger die Grenzen zwischen Kunstwerk und Betrachter verwischen), verschieden nach Raum und Ambiente, dem Spielort insgesamt – im Festival eine Palette vom verranzten Keller, von Galerie, Studio, Kneipe und Bar, den etablierten Spielorten freier Projekte, bis zum ausgeschlachteten Bus.
Opernwürfel
Allein am Beispiel zweier Produktionen, der „Ear Action“ von Hülcker/Veloce und Georg Nussbaumers „Der Opernwürfel“, zeigt sich die ganze Spannbreite dieser Theaterwelt. In der „Ear Action“ (angelehnt an „Autonomous Sensory Meridian Response“, ASMR) entfallen die visuellen Elemente des Theaters komplett. Stattdessen erfolgte eine Art „Ohr-Bespielung“ in intimem Rahmen: zwei Performer, zwei Besucher, ein vielleicht vier Quadratmeter großes Hinterzimmer der Festival Lounge KuLe. Zehn Minuten später ist man verwundert und entzückt über die sehr private Erfahrung von einem Hören wie Kribbeln der Haut – und die Nächsten sind dran.
Der Titel „Der Opernwürfel“ ist wörtlich gemeint: Die Spielfläche der Musiker/Performerinnen vom Solistenensemble Kaleidoskop ist ein monumentales Würfelfragment inmitten der St. Elisabeth Kirche, aufgeschichtet aus Styroporquadern. Darauf liegen Stapel alter Klavierauszüge aus der Operngeschichte mit ihrer typischen Ausstrahlung zwischen haptischer Sinnlichkeit und abstrakter Gelehrsamkeit. Der Würfel wird vom Ensemble permanent umgebaut und verändert seine Gestalt; kurze Motive und Textstellen, in Anlehnung an Cage aus den Klavierauszügen erwürfelt, bilden ein fragiles, mit Live-Elektronik, Streichern und Stimme durchzogenes Klang-Netz.
Zwischen solchen Polen bestimmte eine Mischung aus zeitlosen Themen und aktuellen Phänomenen die Inhalte der Stücke – zumeist aus unorthodoxer Perspektive. So ging’s in „He Wolf/She Man“ um eine Mann-Frau-Beziehung, düster, unheimlich, zärtlich und gewalttätig, etwa: Blaubart meets Frankensteins Braut. Das Singspiel „Lonely Hearts Bus Tours“ ist vordergründig eine Trennungsschnulze im Glitzer-Club-Ambiente, eigentlich aber eine Verabschiedung vom Berlin als Platz der Alternativkultur. Um Gentrifizierung ging’s auch in „Dorfkneipe international“ von Glanz&Krawall. Nomen est omen: Geboten wurde eine leicht ordinäre Revue um das Schließen einer Raucherkneipe. Ästhetisch diametral dazu angesiedelt waren Karen Powers Sichten auf Arktis und Regenwald in „Voices of Hidden Places“ mit dem Ensemble Mosaik. Makiko Nishikaze projizierte in „Breakfast Opera“ internationale Frühstücksgepflogenheiten ins private Küchenambiente einer stimmmächtigen Quasi-WG (mit der Gruppe Maulwerker). Daniel Kötter und Hannes Seidel setzten sich in „Land (Stadt Fluss)“, aus der Trilogie „Stadt Land Fluss“, mit der Frage des Zusammenlebens auseinander (das mehrstündige Stück konnte vom Berichterstatter nicht wahrgenommen werden).
Manchmal konnte man den Eindruck haben, die Theater-Macher/-innen trauten der Kraft ihrer Werke selbst nicht. Die Dauer-Performances wie „Der Opernwürfel“ sollten nach Belieben betreten oder verlassen werden können. Das konnte nicht funktionieren. Denn das Eintauchen in die Würfelmetamorphose, bis man „drin“ war, dauerte personenabhängig seine Zeit. Andererseits verband der Komponist Nussbaumer mit seinem Konzept die Vorstellung einer längeren Verweildauer, nicht nur „10 Minuten“; er forderte ein „sich schon drauf einlassen“. Mit dieser ungefähren Aussage relativiert er aber selbst die künstlerische Wirksamkeit seiner Performance und trübt ihre ästhetische Klarheit ein, leider.
Unter diese Räder geriet auch „Interzone“. Wie der Opernwürfel rekurrierte das musikalische Material des Projekts auf die Oper, speziell auf die romantische Oper. Durch das Duo gamut inc (Elektroakustik) und das Trio Zinc & Copper (tiefe Blechblasinstrumente) war in der Dekonstruktion romantischer Versatzstücke ein überzeugender Soundtrack entstanden, sonor und filigran zugleich. Zusammen mit präzise gezeichneten Lichtflächen und -kuben und Projektionen im abgedunkelten „Club der polnischen Versager“ entstand tatsächlich wie angekündigt eine „Re-Inszenierung romantischer Musiktheaterkonzepte“ – wäre Interzone nicht zeitlich entgrenzt und überdies auch noch zu einer Art „Ruhebereich“ (Programmheft) erklärt worden. So kanalisierte sich das Stück selbst in eine Atmosphäre des Ungefähren. Ausgerechnet diese Performencemusiken sind in einer abstrakteren Klangsprache gehalten. Kann zeitgenössische Musik einem heutigen Musiktheaterpublikum nicht mehr unbeschnitten zugemutet werden?
Soziales und Politisches?
Und richtete sich tatsächlich das performative Musiktheater auf „soziale oder politische Problemstellungen unserer Zeit“, was als eines der Ziele des Festivals gesetzt war? Mir scheint, dass der Anspruch einer politischen Anteilnahme in den einzelnen Produktionen glattgeschliffen war – mit wenigen gelungenen Ausnahmen: ein zum Theaterraum umfunktionierter und in die Jahre gekommener Bus, abgestellt mitten im hippen Berlin-Mitte, ist in der Tat ein politisches Statement: witzig, subversiv – und pragmatisch. Das hatte die Aktion mit all den Kreativorten zwischen Invaliden- und Oranienburgerstraße gemein, die im Festival gleich als ganzes Areal von alternativen Kulturstätten wie ein Mahnmal im aufgehübschten Kiez gegen Gentrifizierung wirken musste.
Mit „White Limozeen“ war Johannes Müller/Philine Rinnert der markanteste Beitrag eines politischen Musiktheaters im Festival gelungen. Das Stück nach Puccinis „Madame Butterfly“ ist auf den Hintergrund des Opernstoffs im Kolonialismus fokussiert, andererseits greift es den verlängerten Arm des historischen Kolonialismus im heutigen kolonialen Denken auf, wie er zum Beispiel in Fragen der Besetzung von Künstlern wirkmächtig ist. Die Besetzung von „White Limozeen“ mit der afroamerikanischen Sopranistin Sarai Cole und der chinesischen Schlagwerkerin Sabrina Ma war nur folgerichtig. In eingespielten Videos sind ihrer beider eigenen Erfahrungen mit diskriminierenden Vorstellungssituationen der Boden für die Privatisierung des Problems entzogen, ohne diese zu verschweigen, aber auch ohne in der Betroffenheitsfalle zu hängen, wofür das performative Musiktheater so anfällig ist. Mit ihren Bezügen zu einem Werk der Oper und deren politischen Hintergründen, der erkennbaren Trennung von Darstellungskunst und biografischer Befindlichkeit der Künstlerinnen, und ohne das Genre Oper zu denunzieren, sind in „White Limozeen“ die wichtigen Eigenschaften zusammengefügt, die man sich für wirklich aktuelles Musiktheater wünscht.