Alte und junge Besucher haben es sich am Rand eines blauen Quadrats auf Sitzkissen bequem gemacht, weitere dahinter auf Stühlen. Am anderen Ende dieser Schwimmbecken-Bühne stellen sich die Neuen Vocalsolisten auf und stimmen Monteverdi an. Nicht nur ein paar Töne: ein ganzes Madrigal. Stand nicht ein neues Werk, die deutsche Erstaufführung von Annelies Van Parys’ „An Archive of Love“, auf dem Programm? Es kommt noch bunter: „Tristan?“, fragt zaudernd eine Frauenstimme. „Isolde!“, tönt es postwendend zurück: „lülülülülü“, gefolgt von gehauchten, gekrächzten, unartikulierten Lauten. Was parodistisch wirkt, verdankt seine Komik zu guten Teilen Claude Viviers „Love Songs“, die Van Parys munter mit Monteverdi, José-Maria Sanchez-Verdù und eigenen Tönen bis hin zu kurzen Pop-Song-Fragmenten collagiert. Und den unvermittelten Kontrasten. Wir meinen, einzigartig zu sein, will die Komponistin sagen: Doch wir wiederholen in unseren Liebesgeschichten nur die Klischees, die seit ältesten Zeiten besungen werden.
Van Parys’ Werk ist nicht das einzige in diesem „Sommer in Stuttgart“, das in frühere Jahrhunderte zurückgreift. Dieter Schnebel hat die Wiederaufnahme seiner „Utopien“ nun nicht mehr erlebt. In der renovierten Hospitalkirche findet das Musiktheater ihr ideales Ambiente. Wie der Architekt Arno Lederer den nach dem Krieg nur im Chor wieder aufgebauten Bau mit seiner Geschichte zu versöhnen sucht, so bezieht sich auch Schnebel, von den Errungenschaften der Neuen Musik ausgehend, mit Zitaten und Anspielungen auf frühere Epochen. Denn Utopien meint hier im Sinne Ernst Blochs das utopische Denken als solches, das es, so Schnebel, zu jeder Zeit gegeben hat. Er zitiert Thomas Morus, aber er sagt auch, wer eine Utopie erreicht, muss nach einer neuen suchen. Die Neuen Vocalsolisten arbeiten sich an einem weißen Zelt-Pavillon, der in der Mitte der Bühne steht, nicht nur stimmlich, sondern auch körperlich ab. Trost findet der Theologe Schnebel am Ende in der Liebe und in der gratia: Dank und Anmut schwingen mit. Doch gemeint ist vor allem die Gnade.
Das Konzert des Ensembles ascolta steht unter dem Titel „Zeitreisen“: Auch hier wechseln Alt und Neu, wenn auch eigentlich nur in Stefan Litwins „Kinderszenen“. Mit Zitaten aus Robert Schumanns gleichnamigem Zyklus beschwört das Werk die romantische Vorstellung einer heilen Kindheit herauf und stellt diese der heutigen Situation von Millionen von Straßenkindern gegenüber. Die muss sich der Zuhörer freilich dazudenken – oder allenfalls aus den sperrigeren, rhythmischen Ensembleklängen, versetzt mit Kinderstimmen aus dem Laptop, herauszuhören versuchen. Das zuvor aufgeführte Werk von Hugo Murales Murguía wirkt eher futuristisch. Markus Schwind und Andrew Digby scheinen mit Druckluft aus dem Rucksack durch die Schalltrichter von Trompete und Posaune den Saal desinfizieren zu wollen. Sehr energisch trägt nach der Pause vor allem die Violinistin Hannah Weirich das Quartett „Liaison“ von Isabel Mundry vor, gefolgt vom zweiten Hauptwerk des Abends, „Ascolta-Rajzak“ von Márton Illés. Vier Musiker bearbeiten die Saiten des offenen Flügels. Davon ausgehend fächert der Komponist nach und nach das vielfarbige Spektrum des Ensembleklangs auf. Hier zeigt sich: Auch jenseits großer Namen wie Adriana Hölszky, der zum 65. Geburtstag das letzte Konzert des Festivals gewidmet ist, hat die Neue Musik noch Neues zu bieten.
Konsequent „neu“ bürstet auch die Cellistin Okkyung Lee in ihrem Soloprogramm „Hutton Sori“ kräftig gegen alle Konventionen. Sie schließt zuerst die Fenster und Vorhänge des überhitzten Raums. Ein Rauschen weht aus dem Lautsprecher, bevor sie sich mit ihrem Instrument von außen um die symmetrisch zur Mitte hin ausgerichteten Stuhlreihen herum und zwischen diesen hindurch bewegt. Nicht nur mit dem Bogen auf den Saiten erzeugt sie vielfältige Geräusche, sie schiebt auch den Stachel ihres Instruments und den Stuhl einer Zuhörerin knarzend über den Boden. Um dem Spuk ein Ende zu setzen, öffnet sie zum Schluss alle Türen und Fenster.