Selbst unter den selten gespielten Opern von Alexander Zemlinsky fristet „Der Kreidekreis“ ein Schattendasein. Kurz nach Fertigstellung des Werkes übernahmen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland und vertrieben den jüdischen Komponisten mitsamt seiner Musik. Heute fremdeln die Regisseure mit dem Stoff. Aber sie lieben die Musik, die mühelos zwischen Tanzpalast-Lässigkeit und spätromantischer Emphase pendelt. Die Düsseldorfer Deutsche Oper am Rhein hat das Werk ausgegraben. Ein Besuch des Hauses lohnt sich.
Zemlinskys Musik blüht und groovt in Düsseldorf in Alexander Zemlinskys „Der Kreidekreis“
„Der Kreidekreis“ ist Zemlinskys siebte und letzte vollendete Oper, zugleich ein Solitär in seinem über vierzigjährigen Opernschaffen. Nie wieder flirtete er so entschieden mit den Publikumserfolgen seiner Zeit, mit „Jonny spielt auf“ und mit den Straßenfegern von Bertolt Brecht und Kurt Weill. 1927 war Zemlinsky, von Prag kommend, Erster Kapellmeister an der Berliner Krolloper geworden und registrierte den Siegeszug dieser neuen Opernsprache. Dieses Mal (und nur dieses Mal) mag er sich gedacht haben: Das kann ich auch. Und er konnte es.
Ohne die „Dreigroschenoper“ und ohne „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, dessen Berliner Erstaufführung Zemlinsky Ende 1931 dirigierte, ist „Der Kreidekreis“ nicht denkbar. Nicht stofflich – Zemlinsky schmiedete sich sein Libretto aus dem gleichnamigen Theaterstück von Klabund, das 1925 in Meißen mit sensationellem Erfolg uraufgeführt worden war und das später auch Brecht verarbeitete – und nicht musikalisch. Elegante Tanzrhythmen, einschlägige Schlagzeug-Instrumente, Banjo und eine transparente, ja kammermusikalische Instrumentation spielen auf die Unterhaltungsmusik der 20er-Jahre an. Die in China angesiedelte Oper beginnt in einem als Teehaus getarnten Freudenhaus, und Zemlinsky scheut sich nicht, mit verführerischem Saxophon-Gesäusel etwas Bargeruch auf die Szene zu zaubern. Zwar enthält der „Kreidekreis“ alles, was eine gute Weill-Oper ausmacht: Freudenmädchen, korrupte Richter, bestochene Zeugen, aber eben auch alles, was ein Puccini gebraucht hätte: Intrige, Mord, Verzweiflung und Vergebung.
In der Oper am Rhein erleben wir einen Abend der Sängerinnen – und des Düsseldorfer Ensembles, dem diese angehören. Den Applaus des Premierenpublikums am 1. Dezember sichert sich allen voran Lavinia Dames in der Hauptrolle der Tschang Haitang, die von dem Steuereintreiber Ma aus dem Freudenhaus herausgekauft wird. Noch in den letzten Bildern, in denen sich Haitangs Arien häufen, gestaltet sie Zemlinskys edle Melodik in fein abgestuften Bögen und mit voll klingendem Lyrischen Sopran. Gegenspielerin Yü-Pei, die die Ermordung Mas Haitang anzuhängen versucht, singt Sarah Ferede mit wuchtigem Mezzosopran – eine beeindruckende Sängerin mit starker Bühnenpräsenz. Romana Noack leuchtet in ihrem kurzen Auftritt als Hebamme ihre Gesangslinien nuanciert aus und Opernstudiomitglied Elisabeth Freyhoff eröffnet den Abend mit einem herzergreifend gesungenen Lied, nachdem sie Kuppler Tong (Cornel Frey, gewandet wie eine schwarze Königin der Nacht) aus ihrem Käfig geholt hat. Eine glückliche Hand beweist Düsseldorf mit dem Engagement von Schauspieler Werner Wölbern in der Rolle des gierigen und versoffenen Richters. Dirigent Hendrik Vestmann (der ein instruktives Interview für das Programmheft beisteuert) gelingt der Wechsel vom lasziven 20er-Jahre-Sound zur großen Operngeste mit sicherer Hand, so dass Haitangs Arien – zumal die verzweifelte Bitte im Schneesturm – so klingen, als seien sie aus Zemlinskys vorangegangener Oper „Der Zwerg“ übrig geblieben. Zemlinskys Musik blüht und groovt in Düsseldorf.
Gespielt wird auf einem runden Bühnentableau, der dominanten Metaphorik des Kreises gehorchend. Die Kreidezeichnungen im Bühnenbild von Patrick Bannwart passen zur Naivität, mit der Haitang durch die Parabel irrt. Die Düsseldorfer Produktion sieht gut aus, vor allem die Kostüme von Falko Herold, die sich – wie Zemlinskys Musik – der Chinoiserien weitgehend enthalten und mit wenigen, aber markanten Farbtupfern auskommen.
Dem „Kreidekreis“ steht sein Text im Wege. Es handelt sich um ein parabelhaftes Märchen, das Zemlinskys Musik derart psychologisiert, als handelte es sich um Vorgänge, mit denen man sich beschäftigen müsste und mit denen man sich um die vorletzte Jahrhundertwende (die Zemlinskys Denken prägte) auch beschäftigt hat. Zwar sind Rufmord und Korruption, Zynismus der Reichen und Ausbeutung der Prostituierten durchaus Themen der Gegenwart. Aber ob „Der Kreidekreis“ dafür den richtigen Resonanzraum bildet, sei dahingestellt. Haitang wüsste davon ein Lied zu singen. Der unbeirrbar Gutherzigen wird in dieser verächtlichen Männerwelt übel mitgespielt. Selbst das vermeintliche Happy End vergiftet der Umstand, dass der neue Kaiser von China, der Haitang gerade noch gerettet hatte, ihr gesteht, sie einst im Schlaf missbraucht zu haben. In der Inszenierung von David Bösch gehen die beiden wie unversöhnt auseinander – einer der wenigen Momente, in denen Bösch eingreift. Gut so. Ihr „poetischer Realismus“ (Bösch) rettet die Inszenierung davor, mit grellen Regieeinfällen Bedeutung zu behaupten, die desto fragwürdiger wird, ja länger man über sie nachdenkt. So aber bleibt eine Bühnenparabel, einfach und unbequem, spannend und traurig, wie andere Parabeln auch. Und mit der Musik eines Meisters.
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