Dienen – gar sich opfern? Ganz schön uncool in unseren Zeiten der Egomanen und ihrer Ego-Trips! Oder: typisch alter Opernstoff, irgendwie mythisch entrückt. Dann hat Christoph Willibald Gluck auch noch quasi-religiöse Ritualtänze, Pantomimen-, Kampf- und Feier-Musik in die Handlung integriert. Eine spezielle Herausforderung, weshalb der Belgier Cherkaoui mit seiner Tanzkompagnie Eastman für die Neuinszenierung an der Bayerische Staatsoper verpflichtet wurde. Wolf-Dieter Peter bleibt von der Inszenierung enttäuscht zurück.
„Dienende Demut“ und „Opferbereitschaft“ finden sich in der mythischen Königin Alceste. Sie hat ihren geliebten Mann Admète bis an die Schwelle des Todes gepflegt – und ist gegenüber den Göttern schließlich bereit, für ihn zu sterben, um ihn weiterleben zu lassen; zusätzlich schmerzzerquält, neben dem Geliebten auch die gemeinsamen Kinder zurückzulassen. Als sie den Todesfluss überschritten hat, will Admète ihr folgen – doch die Größe des Opfers ruft besondere Rettung herbei: Hercule kämpft die Kräfte der Unterwelt nieder. Das liebende Königspaar Alceste-Admète beginnt eine neu geprägte Herrschaftsperiode.
Ein an hautnah packendem Musiktheater interessierter Regisseur könnte alle antikisierende Maskerade beiseite fegen: um den geliebten Mann A zu retten, wäre die außergewöhnliche Frau A bereit, sogar ihr Herz transplantieren zu lassen; doch in einem dem Sci-Fi-Elysium angenäherten Herz-Zentrum vollbringt der genialische Arzt H gegen vielerlei Widerstände das Wunder, dass beide überleben. Oder ein hypersensibler Regisseur könnte das ganze Drama auch aus Sicht der beiden Kinder erzählen, die die Todesbereitschaft beider Elternteile stumm durchleiden müssen.
Mit Breakdance-Einlage und Stage-diving
Doch Sidi Larbi Cherkaoui ist im Kern Choreograph. Prompt tanzt seine Eastman-Truppe schon den Rhythmus der Ouvertüre in abstrakten, Jil-Sander-nahen Kostümen durch Körperdreh- und züngelnde Armschling-Bewegungen illustrierend. Nahezu alle dramatischen Rezitative und Arien lässt er umtanzen bis hin zur störenden Ablenkung von der musikdramatischen Expression der Musik. Den Gipfel bilden schwarze Stelzenmänner, die im Totenreich Alceste und Admète bedrohlich umringen und von Hercule wenig überzeugend „gefällt“ werden… ach ja, und beim Jubelchor zu Admètes Genesung legt ein Tänzer eine hübsche Breakdance-Einlage hin; Admète wie Hoher Priester werden auch mal in Stage-diving-Manier umhergetragen…
Nur dafür scheint Cherkaoui seine Erfindungskraft aufgewandt zu haben. Prompt fehlt nahezu jede Personenregie: die Protagonisten stehen sehr oft mit üblichen Operngesten da, singen frontal ins Publikum und werden zu oft von Eastman-Tänzern umwuselt oder mit weitgehend sinnfreien Tuch-Falt-Ritualen dekoriert. Der volltönende Chor (Einstudierung: Sören Eckhoff) kommt in erlesen hässlicher Alltags- und Arbeitskleidung aus Gassen der grauen Seitenwände, der hinteren Bühnentiefe und muss wie die Solisten über hohe Treppenstufen steigen (abstraktes Raum-Irgendwo von Henrik Ahr). Visuell am unerfreulichsten ist, dass der für die Kostüme verantwortliche Modedesigner Jan-Jan Van Essche die Alceste von Dorothea Röschmann wie eine schwangere Matrone drapiert hat. Nur ein paar Buhs für diesen Teil der Premiere.
Musikalisch beeindruckend
Die musikalische Seite wurde einhellig gefeiert und bejubelt. Dirigent Antonello Manacorda setzte mit dem Staatsorchester in Großbesetzung die wuchtige Dramatik Glucks beeindruckend um. Zu einer anderen Inszenierung wären mehr Härte und Kante zu imaginieren: Gluck gäbe das her. Gesanglich blieben bei den kleineren Rollen, erst recht bei Sean Michael Plumb (Apollo), Manuel Günther (Évandre), Michael Nagy (Hercule) und Charles Castronovo (Admète) keine Wünsche offen. Kostüm und Nicht-Regie sind schuld, dass Dorothea Röschmann trotz schöner Töne nicht zu einem herzbewegenden Frauenideal wurde. Haupteindruck: ein mittelguter Choreograph wird derzeit als Regisseur heillos überschätzt.