Cage und kein Ende. Nachdem die Akademie der Künste schon im September 2011 ein umfangreiches ganzjähriges Programm mit Konzerten, Ausstellungen und Performances zum 100. Geburtstag von John Cage begonnen hatte, widmete sich auch die diesjährige MaerzMusik ausführlich dem Jubilar.
Ihr Kurator Matthias Osterwold hatte schon immer eine Präferenz für die New Yorker Szene gezeigt. Obwohl John Cage von der West Coast stammte, kam er erst an der East Coast zu stärkerer Wirkung. Mehr Beachtung fand er in Deutschland, vor allem mit drei Vorträgen, die 1958 bei den Darmstädter Ferienkursen heftige Debatten auslösten. So warf Luigi Nono dem Amerikaner vor, er drücke sich vor der künstlerischen Verantwortung. Cages Auftritt stellte das System des Serialismus in Frage und führte zu seinem allmählichen Verschwinden. In Europa fand der Amerikaner seine schärfsten Gegner und seine gläubigsten Jünger.
Unabhängig von Cage begann das Festival mit „gefaltet“ von Sasha Waltz als „Vorspiel“. Musikalisch stand in diesem choreographischen Konzert Kammermusik von Mozart im Mittelpunkt, exzellent interpretiert von Carolin Widmann, Guy Ben-Ziony, Nicolas Altstaedt und Alexander Lonquich, die sich auch den wenig erhellenden Klangschatten widmeten, die Mark Andre hinzukomponiert hatte.
Die Komponistin und Performance-Künstlerin Joan La Barbara, die mit den anarchisch bunten „Song Books“ von Cage das Eröffnungskonzert bestritt, berichtete in der American Academy, wie sie 1972 den Komponisten bei einer chaotischen Cage-Aufführung in der Berliner Philharmonie kennengelernt hatte. Ihr Protest verwandelte sich bald in Respekt und Treue. Charakteristisch für Cage sei es gewesen, Fragen mit neuen Fragen zu beantworten. Er vertraute den Musikern, verlangte von ihnen jedoch konzentrierte Stille. Spontaneität und Improvisation lehnte er ab. Schönberg hatte ihm mangelndes Verständnis für Harmonik vorgeworfen. Dagegen sei sein Sinn für Form sehr entwickelt gewesen. Noch mehr tat er für die Emanzipation des Geräuschs.
Sein Orchesterstück „103“ fügten 103 Mitglieder des Konzerthausorchesters ohne Dirigent und ohne Partitur aus Einzelstimmen zusammen. Das Resultat war ein milder, kaum strukturierter Klangstrom, den gelegentlich Akzente durchkreuzten. Einmal pausierten die Bläser sogar für einige Minuten, was auffiel, aber nicht über die Gesamtlänge von 90 Minuten hinwegtrug. Auch die Lichtpunkte in dem dazu projizierten Film „One11“ führten kaum zur intensiveren Wahrnehmung dieses Spätwerks, welches der Filmregisseur Henning Lohner gar als künstlerisches Credo des Meisters bezeichnete.
Mythos Experiment
Bei dem internationalen Symposium „Cage und die Folgen“ bezog sich Claus-Steffen Mahnkopf auf die Aufführung dieses Orchesterwerks. Er vermutete drei Haupttypen von Zuhörern: Erstens diejenigen, die „103“ schon nach zehn Minuten als langweilig ablehnen, zweitens Hörer, die die neunzig Minuten als angenehme Entspannung genießen, und drittens eingefleischte Cage-Fans, welche dieses Werk als grandios bewerten. Mahnkopf diagnostizierte unter der Cage-Gemeinde eine Neigung zur Mythenbildung, Idealisierung und Sakralisierung, welche den Diskurs erstarren lasse. Experimente gälten ungeprüft als gelungen. Um den kritischen Diskurs wieder in Gang zu setzen, machte er den interessanten Vorschlag, Cage-Werke wenigstens zeitweise ohne den Namen des Komponisten aufzuführen. Bei einem solchen Experiment könne sich das Publikum vorurteilslos allein dem Klangresultat widmen. Mit Ausnahme von Reinhard Oehlschlägel, der den Vorschlag als „spitzbübisch“ abtat, erhielt Mahnkopf aus dem Auditorium überraschend viel Zustimmung. Wie Feldman, Nono und Lachenmann gehöre Cage inzwischen zu den Künstlern, die von seinen besten Anhängern missverstanden werden.
Ein Beispiel für solche Mythenbildung war das Gastspiel des „Just Alap Raga Ensemble“ von La Monte Young und Marian Zazeela. Ihr als Sensation angekündigter Auftritt in der Villa Elisabeth, einem der Nebenschauplätze der MaerzMusik, war ausverkauft. Die Fans warteten geduldig, erst in einer langen Schlange vor dem Saal, dann weitere 40 Minuten drinnen. Endlich öffnete sich die Tür und die Erleuchteten traten ein. Was man aber von ihnen zu hören bekam, ernüchterte rasch. Zum erbarmungslosen Dauerdröhnen einer Quinte intonierte Young mit zwei weiteren „Sängern“ ungelenk raue Töne, die auf die Dauer ebenso langweilig wirkten wie die unveränderliche Lichtinstallation. Viel interessanter waren die experimentellen Gruppen-Kompositionen, welche Berliner Schüler an den beiden nächsten Tagen als Teil des QuerKlang-Projekts im Philharmonie-Foyer boten. Aber diese jungen Künstler hatten noch keinen Namen wie La Monte Young und konnten nicht auf Weltruhm pochen.
Cage hat einen neuen Begriff von Musik entwickelt, welche erst in der Aufführung Gestalt gewinnt. Wie Rainer Riehn bezeugte, war der Komponist selbst überrascht, wie die von ihm konzipierten „Werke“ klangen. Die Aufführungen des Arditti-Quartetts hatten ihn dagegen durchweg begeistert. Seine „Music for Four“, die die Ardittis 1988 uraufgeführt hatten, spielten sie auch in inzwischen veränderter Besetzung so spannungsvoll, dass von Zufall nicht mehr die Rede sein konnte. Auch bei der faszinierenden Klangtransformation in Alvin Luciers „Navigations for Strings“, den virtuosen Flageolett-Eskapaden in Stefano Scodanibbios „Visas“ und dem irritierend schlichten Streichquartett von Terry Jennings ließ ihre hohe Klangkultur aufhorchen. Enttäuschend wirkte dagegen das Webern-Epigonentum in einem Jugendwerk La Monte Youngs, der diesem herausragenden Konzert fernblieb.
Neben der Philharmonie und „Räumen mit New York-Feeling“ (Intendant Thomas Oberender) wie dem Berghain war das frisch renovierte Haus der Berliner Festspiele Hauptspielort der MaerzMusik. Hier trafen sich vier ältere Herren, die US-Amerikaner Robert Ashley, Gordon Mumma, Alvin Lucier und David Behrman, zur mehrstündigen „Sonic Arts (Re)Union“. 1966 hatten sie sich zur Sonic Arts Union zusammengetan, um im Sinne von Cage neue Wege der Live-Elektronik zu gehen. Als Avantgarde-Veteranen traten sie nun nach langer Pause wieder einmal zusammen auf. Bei Robert Ashley, der wie Lucier schon 2009 bei der MaerzMusik zu Gast, beschränkte sich die Live-Elektronik auf Verstärkung und Nachhall. In seinem eigentümlichen Singsang trug er nicht immer verständliche Texte („Other Songs“) vor, wobei Kommentare über ein zweites Mikrophon verfremdet wurden. Dass auch Gordon Mumma ein Pionier der elektroakustischen Musik war, bestätigte er an diesem Abend nicht. An seine frühere Pianisten-Tätigkeit erinnerten an Bartók und Webern orientierte Klavierminiaturen, die er Freunden widmete und die von Daan Vandewalle vorgetragen wurden.
Eindrückliche Live-Elektronik bot dagegen Alvin Lucier in seinen „Slices“ für Cello und zuvor aufgezeichnetes Orchester. Obwohl in diesem siebenteiligen Werk nicht mehr geschieht, als dass der Cellist Charles Curtis einen 53-tönigen Cluster einmal abbaut, dann aufbaut, entfaltete dieser Prozess eine magische Wirkung. Denn Curtis beeinflusste mit seinen gleichförmig-rituellen Strichen den über Lautsprecher eingespielten Orchesterklang. Für seine „Music for Solo Performer“ befestigte Lucier Elektroden an seinem Kopf, welche die Gehirnwellen abnahmen und über einen Verstärker und einen Filter an Lautsprecher weiterleiteten. Deren unhörbare Unterschall-Impulse brachten ein auf der Bühne aufgestelltes Schlagzeugensemble zum Schwingen, sie bewegten Becken, Gongs, Glocken und Trommeln wie von Geisterhand. Zu später Stunde erschien dann David Behrman auf der Festspielbühne. In seinem frühen Stück „Wave Train“ für Klavier und Feedback, das über Rückkopplungen die Klaviersaiten stimuliert, zeigte er noch seine experimentelle Seite. Dagegen erwies sich die 2007 entstandene Komposition „Long Throw“ als nostalgisch wabernde Klangfläche in kaum getrübtem Dur. Das Experiment landete im Mainstream.
Gegenpol Wolfgang Rihm
Als Gegenpol zum 100-jährigen Cage hatte Osterwold Werke des inzwischen 60-jährigen Wolfgang Rihm aufs Programm gesetzt. Auf den Serialismus hatte er mit expressiver Subjektivität reagiert. Das portugiesische Remix-Ensemble (Leitung Peter Rundel) konfrontierte zwei Rihm-Kompositionen mit solchen der Cage-Nachfolge. George Brechts Symphony No. 2, die mit stummem Notengeblätter Erwartungen an eine Symphonie unterläuft, wirkt heute museal. Die 1962 durch diesen Fluxus-Künstler totgesagte Gattung lebt weiter. Die Ensemblekomposition „Form 2“, die James Tenney 1993 John Cage widmete, legt in strenger Form die Oberton-Harmonik fest und lässt den im Raum verteilten Musikern im Bereich der Rhythmik Freiheiten. Wie bei allen Orchesterkompositionen von Cage fungierte der Dirigent als bloßer Zeitanzeiger; er markierte die Stationen für die Klänge, die sich allmählich von unten nach oben aufschichteten, bis zum Schluss ein einzelner Ton übrigblieb. Obwohl das Ergebnis trotz der unterschiedlichen Ästhetik an eine Klangkomposition wie „Atmosphères“ von György Ligeti erinnerte, wirkte es vorhersehbarer und damit steriler als die beiden Rihm-Kompositionen. In dessen „Versuchung“, einer Hommage à Max Beckmann für Violoncello und Orchester (2009), überraschte die grelle Antwort auf den dunkel-fahlen Beginn, aber auch das Einweben spätromantischer Anklänge. Das Ganze war ein spannender Prozess, der auch in seiner Gesamtform – im übergreifenden Aufstieg von der Tiefe in die Höhe – überzeugte. Rihms Ensemblekomposition „Will Sound More Again“ (2005/2011) verharrte keineswegs im explosiv-kraftvollen Gestus, sondern berührte mit Akkordeon und Flöte bukolische Bereiche.
Anderntags erlebte man Wolfgang Rihm im Gespräch mit Rudolf Frisius. Die Programmkoppelung mit Cage kommentierte er: „Der Zufall will’s.“ Rihm hält die Gegenüberstellung von Komponisten-Schulen nicht für glücklich, denn diese seien Konstruktionen, meist nicht von den Komponisten, sondern von den Jüngern oder den Verlagen. Er erinnerte an das Etikett „Neue Einfachheit“, das ihm einst angeheftet wurde. Bei ihm sei dagegen alles immer noch unsicher, auch wenn er nach außen entschieden wirke. „Ich bin ein Instinktmensch.“ Durchaus im Sinne von Mahnkopf wandte sich Rihm gegen Schubladendenken. Jedes Werk solle für sich gehört und beurteilt werden.
Die Berechtigung dieser Forderung erwies sich im nachfolgenden Konzert des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, das vier Werke mit je eigenem Gesicht, jedoch unterschiedlich starker Ausstrahlung präsentierte. „Coptic Light“ von Morton Feldman dehnte ein statisches Klangfeld, das Schönberg schon 1909 im Orchesterstück „Farben“ auf den Punkt gebracht hatte, über 25 Minuten aus. Dass Christian Wolffs „John, David“ stärker berührte, lag weniger an der etüdenartigen Verfremdung alter Lieder, sondern mehr an der großartigen Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky. Dann aber Wolfgang Rihm mit zwei extrem unterschiedlichen Werken. Im Gespräch hatte er ein wachsendes Interesse für die Tradition erwähnt. Im 3. Doppelgesang für Klarinette, Viola und Orchester orientierte er sich an Petrarca-Sonetten wie auch an Doppelkonzerten der Vergangenheit, beispielsweise an Brahms. Obwohl Rihm hier den beiden Solisten (fabelhaft Jörg Widmann und Antoine Tamestit) große melodische Bögen offerierte, kann von Epigonalität oder gar Einfallslosigkeit nicht die Rede sein. Der explosiv aufbegehrende Ton, der abschließend im 30 Jahre zuvor entstandenen Orchesterwerk „Magma“ zu erleben war, ist im Doppelgesang gezügelt, aber nicht verschwunden.
Diesen Höhepunkt der MaerzMusik leitete mit tänzerischer Eleganz Lothar Zagrosek, der in Berlin inzwischen leider nur noch selten zu erleben ist. Er dämpfte zum Schluss die Beifallswogen und informierte zusammen mit Matthias Osterwold, Jörg Widmann und Wolfgang Rihm über die bedrohte Existenz des SWR-Orchesters. Es dürfe nicht sein, dass das beste deutsche Orchester für zeitgenössische Musik bis zur Unkenntlichkeit zusammengespart wird. Mit Stéphane Hessel rief er den Konzertbesuchern ein „Empört Euch!“ zu, was hoffentlich auch in den Leitungsetagen des SWR vernommen wird.
Auch das Konzert des RIAS-Kammerchors in der Sophienkirche konfrontierte ein frühes und ein spätes Rihm-Werk. Obwohl man auch hier, allerdings auf andere Weise, eine Entwicklung vom Fragmentarischen zum Abgerundeten und Sinnlichen erlebte, war dies insgesamt erhellender als das Überangebot an Vertretern der Cage-Nachfolge. Zu dieser gehörte etwa eine kuriose Performance für flammengesteuerten Oszillator von Nicolas Collins oder „here’s trouble“ von Chris Mann, welcher Sprechstile seiner australischen Heimat karikierte. Möglicherweise eine triste, verödete Großstadt hatte Alvin Curran im Blick, als er dem Pianisten Daan Vandewalle sein Klavierstück „Inner Cities 10“ zueignete, in dem über 50 Minuten äußerste Gedankenarmut vorherrschte. Die Kehrseite der von Cage gewünschten Sensibilisierung ist Vergleichgültigung.
Wolfgang Rihm hatte bescheiden gemeint, im Unterschied zu seinem Wohnort Karlsruhe, wo man ihn erst jetzt entdecke, sei er in Berlin längst überrepräsentiert. Was hätte wohl John Cage über eine so umfangreiche Geburtstagsehrung gesagt? Die Koppelung mit Rihm hätte er wohl kaum abgelehnt. Wie Rihm berichtete, ist ihm der immer von Jüngern umgebene Amerikaner selbst interessiert und offen entgegengekommen. Immerhin sind den beiden sonst so gegensätzlichen Komponisten ihr ständiges Fragen und das Insistieren auf künstlerischer Freiheit gemeinsam.