„In der schönen Provence liegt ein Tal zwischen waldigen Bergen, die Trümmer des alten Schlosses Dürande sehen über die Wipfel in die Einsamkeit herein…“ So stimmungsvoll abgeschieden leitet der Dichter Joseph von Eichendorff seine Novelle „Das Schloß Dürande“ ein. Und ganz ähnlich lautet jetzt die szenische Anweisung zum 1. Akt der gleichnamigen Oper in vier Akten des bei uns vor allem als Liedkomponist bekannten Schweizers Othmar Schoeck in der im Rahmen eines Forschungsprojekts der Hochschule der Künste Bern entstandenen textlichen Neufassung von Francesco Micieli.
Keine Horrorvision eines Schlosses wie etwa bei der Oper „Irrelohe“ von Franz Schreker oder in den zahllosen Gruselfilmen. Doch die Idylle trügt – sowohl vom Inhalt der Novelle als auch von der bewegten Geschichte der Schoeck-Oper her, die das Berner Stadttheater am 31. Mai 2018 konzertant unter der engagierten Leitung Mario Venzagos mit Erfolg wiederaufführte. Rund 75 Jahre sind vergangen seit jener denkwürdigen Premiere der Berliner Staatsoper vom 1. April 1943, die das Schloss Dürande in schlimmer Analogie zum Kriegsgeschehen durch Bühnenexplosion in Trümmer legte. Einen vagen Eindruck der Aufführung vermittelt ein Mitschnitt des Reichssenders; unter der Leitung Robert Hegers singen Maria Cebotari, Peter Anders, Willi Domgraf-Fassbaender und Josef Greindl die Hauptrollen.
Die Eichendorff-Erzählung basiert auf Kleist: Der nach Rache dürstende, sein Privatrecht einfordernde Jäger Renald Dubois ist dem Michael Kohlhaas nachempfunden; seine Schwester Gabriele dagegen, der er in inzestuöser Liebe anhängt, ähnelt in ihrer willenlosen Hingabe dem jungen Grafen Armand aus dem „Käthchen von Heilbronn“. Analogien, die Schoeck nach seiner kühnen Vertonung der Kleist’schen „Penthesilea“ von 1925 (sie erscheint in jüngerer Zeit häufiger auf unseren Spielplänen) sicher beflügelten – ebenso wie die Eichendorff’sche Atmosphäre der ewig singenden und rauschenden Wälder. Durchaus dramatisch, wenngleich nicht immer psychologisch motiviert entfaltet sich die Handlung von dem Schuss des Wüterichs Renald aus, der nicht den Grafen, sondern Gabriele trifft. Nach kurzem Klosteraufenthalt folgt diese ihrem Geliebten verkleidet und von ihm unerkannt in das Paris der gärenden Revolution. Der rasende Renald schließt sich den Aufrührern an, verfolgt das vermeintliche Liebespaar zurück bis nach Dürande und tötet die beiden. Als er von der Unschuld der Liebenden erfährt, steckt Renald aus Verzweiflung das Schloss in Brand.
Ob Schoeck mit dem alemannischen Dichter Hermann Burte, auf dessen Text er 1937 gespannt ist wie der „Bogen der Penthesilea“, eine glückliche Wahl trifft, darf bezweifelt werden. Der völkisch gesinnte Burte verwandelt die schwebende Prosa Eichendorffs in hämmernde und knüttelnde Verse, deren „Meistersinger“-Vorbild er nicht erreicht, deren „Feldwebeljargon“ dagegen unüberhörbar ist. Ungeniert reimt Burte Hirsch auf Pirsch, gut auf Blut, rein auf Schwein, Seele auf Gabriele und desavouiert die surreale Naturlyrik Eichendorffs durch plumpe Metaphern. Der alte Graf Dürande (der Tenor Andries Cloete gibt ihn süffisant und nostalgisch) wetteifert gar durch sein „Wie ich war, wie ich bin“ mit Octavians Eingangsworten aus dem „Rosenkavalier“. Auf massive Kritik seines Freundes und Biographen Hans Corrodi entgegnet der unbekümmerte Schoeck, die Burte-Verse seien „flüssig, balladenhaft-volkstümlich, klangvoll“. Auch Emil Staiger beschwört Schoeck, die „unmöglichen Reime“ zu ändern. Vor allem aber verbittet sich Reichsmarschall Hermann Göring höchstselbst in einem Telegramm an Heinz Tietjen diesen „aufgelegten Bockmist“ von Text.
Bei aller Manöverkritik bleibt festzustellen, dass sich Schoeck durch die kurzgliedrige, derbe und prägnante Versform Burtes zu einer Musik inspirieren lässt, die in ihrer Hinwendung zu geschlossenen Nummern, Ensembles und Chören traditioneller anmutet als seine früheren Opern. Mit „Dürande“ bewegt er sich retrospektiv zwischen den Märchenopern Alexander Zemlinskys und Humperdincks „Königskindern“, wobei das Schlussduett eng mit dem rührseligen Liebestod von Königssohn und Gänsemagd korrespondiert. Auch der 2. Akt tendiert mit seinen Gebets- und Weinlesechören fast zur Konvention der Grande Opera, was Corrodi zu den Worten veranlasst: „Es gab plötzlich Opernmusik – hinreißende, aufrauschende Opernmusik!“ Gleichwohl zaubert Schoeck hier vor dem Kloster Himmelpfort mit Vogelmotiven der Holzbläser, mit Harfe, Orgel und Xylophon als Untermalung der Nonnenchöre (von Hilke Andersen als Priorin und dem Frauenchor des Berner Theaters homogen interpretiert) eine Morgenstimmung in pastellener Klangbetörung hin. Faszinierend schlicht gerät ihm auch Gabrieles Eichendorff-Lied „Sie stand wohl am Fensterbogen“; als Porträt seiner Heldin zieht es sich – Sophie Gordeladze verleiht ihm stimmliche Zartheit – durch die Oper und spottet der Burte’schen Reime.
Eher vergilbt wirkt der Realismus des Revolutionsaktes in der Schenke zum roten Löwen in Paris. Gegenüber der Doppelbödigkeit eines Kurt Weill kommen die Jakobinerreden (eindringlich: Michael Feyfar) und Aufruhrlieder bei Schoeck trotz Marseillaise-Zitat über einen biederen Landsknechtston nicht hinweg. Auch die von Burte theatralisch an die Aktschlüsse platzierten Rachemonologe Renalds verlassen nur selten ihren balladesken Mollcharakter. Markant steigert sich hier der Bariton von Robin Adams, kraftvoll unterstützt vom Männerchor, in pathetische Droh- und Trotzgebärden hinein. (Stimmlich ebenbürtig steht ihm Jordan Shanahan als Diener Nicolas gegenüber).
Die Neufassung, die das Berner Projekt mit Francesco Micieli und dem Schoeck-Enthusiasten Venzago vornimmt, gilt indes nicht nur der Eliminierung primitiver Reime, sondern der kompletten ‚Dekontaminierung‘ eines mit Nazi-Ideologemen durchtränkten Librettos. Die Opferbereitschaft der reinen Gabriele entspricht dem NS-Frauenideal ebenso wie die von Schoeck und Burte hinzugefügte Figur der Gräfin Morvaille mit ihrem Gruß an den „Helden von Stahl“, den „kommenden Einen“. Zwei Bände, vom Projektleiter Thomas Gartmann herausgegeben, dokumentieren unter dem Titel „Zurück zu Eichendorff“ und „Als Schweizer bin ich neutral“ akribisch die skrupulöse Arbeit der Autoren bei ihrem Versuch, die Heil-, Heimat-, Blut- und Boden-Lastigkeit des Librettos durch Unterlegung von Eichendorff-Versen zu ‚entburtisieren‘.
Das gelingt an mehreren Stellen vorzüglich; die Arie der Gabriele im 3. Akt ruht nun ingeniös „in einem kühlen Grunde“ und der Rhetorik der Gräfin Morvaille wird ein „stilles, ernstes Wort“ im Walde gegönnt. (Mit klarer und dramatischer Diktion verwandelt die Sopranistin Ludovica Bello diese Vertreterin des Ancien Régime in eine fühlende Frau, deren „Herz nicht alt“ wird.) Als makabren, aber gelungenen Scherz muss man es wohl ansehen, dem Winzerchor des 3. Aktes einen Totentanz nach Lessing unterzuschieben, der jetzt dem harmlosen C-Dur einen Schatten von Mahler beigesellt. Andere Stellen wie die durch Schumanns „Liederkreis“ bekannte „Frühlingsnacht“ oder „Im Walde“ fügen sich weniger organisch ein. Uwe Stickert als Armand kann hier wie auch im Liebesduett seinen schlanken Mozarttenor exponieren. Auch stehen die dann doch zahlreichen, gleichsam als dramaturgische Wegweiser belassenen Burte-Verse oft reimlos und verquer zur Poesie Eichendorffs. Die Absicht der Autoren nach einem ‚Zurück zur Novelle‘ manifestiert sich überdies im Hinübergleiten der Sänger in die Erzählperspektive ihrer Figuren. Epische Verfremdungstechnik à la Brecht, die sich in Schoecks traulicher Romantik merkwürdig genug ausnimmt. Bei einer Konzertwiedergabe funktioniert das; nur mutiert dann die Oper mehr und mehr zu einem Eichendorff-Oratorium und steht nun in der Folge von Mahlers „Klagendem Lied“, Schönbergs „Gurreliedern“ oder Pfitzners „Von deutscher Seele“. Es liegt in künftiger Regie, diesen „gebrochenen und vielstimmigen Personen“ (Micieli) Bühnenleben einzuhauchen.
Bei der Wiedergabe gelingt Venzago von der Mitte des 1. Aktes an eine fast ungetrübte Balance zwischen Soli, Chor (Lob dem Chorleiter Zsolt Czetner!) und dem Berner Sinfonieorchester; souverän vermittelt er zwischen lyrischen Passagen und großen Tableaus, lässt beim Halali der Jagdlieder das Blech dröhnen, dann aber zarte Soli hervortreten. Gegenüber den genannten Protagonisten ist das Gefälle in Gesangsniveau und Textverständlichkeit bei den männlichen Nebenrollen beträchtlich. Mit Emphase begrüßt das Berner Publikum dieses einst so umstrittene Werk ihres großen Landsmannes Schoeck und zollt den Mitwirkenden herzlichen Beifall. Auf die szenische Realisierung des „Schloß Dürande“ in Meiningen 2019 darf man gespannt sein.