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Zum Raum wird das Orchester

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Eine „Musik-der-Zeit“-Veranstaltung des WDR
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Das Orchester – ein unendliches Thema. Es beginnt in uralten Zeiten außerhalb Europas, gipfelnd in den chorischen Hundertschaften der Tang-Dynastie (618–907), wo in einem der Hoforchester allein 200 Mundorgeln mitwirkten. In der Antike bezeichnete der Begriff „Orchestra“ zunächst den „Tanzplatz“ für lyrische Choraufführungen, dann den Raum zwischen Spielhaus und Zuschauern, später ganz allgemein die Bühne. Die räumliche Definition des „Orchestra“ galt auch noch in der Barockzeit: Es war der Platz, an dem die Musiker sich versammelten. Erst um 1700 finden sich in Frankreich Belege dafür, dass unter Orchestra die Vereinigung der bis dato individuell agierenden Instrumentalisten zu einem „Instrumentalkorpus“ verstanden wurde. Wenn in der Neuzeit Komponisten wie Britten oder Milhaud Werke für eine bestimmte Anzahl von Instrumentalisten schrieben und statt der Bezeichnung „Orchester“ oder auch „Kammerorchester“ nur die Zahl der mitwirkenden Musiker angaben, so war das ein bewusster Rückgriff auf alte Musizierpraktiken der „concerti di varii strumenti musicali“, wie sie ein Peri, Caccini oder Gabrieli pflegten.

Das Orchester – ein unendliches Thema. Es beginnt in uralten Zeiten außerhalb Europas, gipfelnd in den chorischen Hundertschaften der Tang-Dynastie (618–907), wo in einem der Hoforchester allein 200 Mundorgeln mitwirkten. In der Antike bezeichnete der Begriff „Orchestra“ zunächst den „Tanzplatz“ für lyrische Choraufführungen, dann den Raum zwischen Spielhaus und Zuschauern, später ganz allgemein die Bühne. Die räumliche Definition des „Orchestra“ galt auch noch in der Barockzeit: Es war der Platz, an dem die Musiker sich versammelten. Erst um 1700 finden sich in Frankreich Belege dafür, dass unter Orchestra die Vereinigung der bis dato individuell agierenden Instrumentalisten zu einem „Instrumentalkorpus“ verstanden wurde. Wenn in der Neuzeit Komponisten wie Britten oder Milhaud Werke für eine bestimmte Anzahl von Instrumentalisten schrieben und statt der Bezeichnung „Orchester“ oder auch „Kammerorchester“ nur die Zahl der mitwirkenden Musiker angaben, so war das ein bewusster Rückgriff auf alte Musizierpraktiken der „concerti di varii strumenti musicali“, wie sie ein Peri, Caccini oder Gabrieli pflegten.Von einem modernen Orchester kann erst gesprochen werden, seit sich die einzelnen Instrumente zu einem Gesamtklang vereinigten, als sich der Gesamtklang gleichsam kollektiv definierte. Die Totalität des Orchesters realisierte die dafür entstandenen Kompositionen, der individuelle Musiker verschwand, zumindest für die „Aufführungszeit“, in der musizierenden Gemeinschaft. Aus dieser „Kollektivierung“, der „technischen“ Voraussetzung für die Darstellung der großen Sinfonik, wie man sie bis heute versteht, erwuchsen im Laufe der Zeit, vor allem aber in den letzten Jahrzehnten wachsende Probleme. Der für die Aufführung großer Sinfonik durch große Orchester immer unentbehrlicher gewordene Dirigent schob sich als „Interpret“ umso stärker in den Vordergrund und schließlich ins Zentrum: Nur er vermochte es, die Genialität eines Komponisten zur Wirkung zu bringen. Nicht selten avancierte er dabei zum Despoten, der die Musiker zu reinen Erfüllungsgehilfen degradierte, die gleichwohl, jeder einzelne, das Herzblut zu opfern hatten, damit der Pultstar den kollektiven Glanz zu entfalten vermochte.

Gegen diesen Zustand, dessen zeremonielle Erstarrung parallel zur Erstarrung des klassisch-romantischen Repertoires durch unendliche Repetitionen verlief, revoltierten in den unruhigen späten 60er- und den 70er- Jahren junge Musiker, die sich nicht länger von Orchesterdompteuren und träge gewordenen Musiziergewohnheiten die Spielregeln vorschreiben lassen wollten. Die folgenden Entwicklungen dürfen als (noch) bekannt vorausgesetzt werden – sie sind in Deutschland mit der Gründung der Jugendorchester, vor allem des Bundesjugendorchesters und der daraus entwachsenen Jungen Deutschen Philharmonie, mit der Bildung freier professioneller Ensembles wie dem Ensemble modern und der Deutschen Kammerphilharmonie verbunden. Selbstbestimmung, freie Dirigentenwahl, eigenständige Programmplanung sollten eine neue „Lust auf Orchester spielen“ (Zitat Karsten Witt, Mitbegründer des Bundesjugendorchesters und der Jungen Deutschen Philharmonie) entfachen. Das hat inzwischen schöne Blütenträume wahr werden lassen, natürlich auch einige zu enthusiastische Erwartungen gedämpft, zum Beispiel die von der wohl zu hoffnungsfrohen Durchdringung der traditionellen Kulturorchester mit dem „neuen Geist“ der jungen Nachwuchsmusiker. Inzwischen scheinen besonders hoch qualifizierte Hochschulabsolventen sogar das Kollektiv der Berliner Philharmoniker zu meiden, die händeringend Spitzenmusiker für ihre ersten Pulte suchen. Ist die „Lust auf Orchester spielen“ womöglich überhaupt erloschen? Werden junge Musiker wieder zu fröhlichen „Concerti“-Kameradschaften, die sich von Fall zu Fall zu gemeinsamem Tun zusammenfinden? Es gibt zumindest Anzeichen für solche Entwicklungen.

In dieser Situation scheint es angezeigt, in die organisatorischen und ästhetischen Überlegungen zum Thema „Orchester“ auch die Erfinder von Musik einzubeziehen. In seiner verdienstvollen Reihe „Musik der Zeit“ versammelte der Westdeutsche Rundfunk Köln Komponisten und Orchester in verschiedensten Formationen, um mit ihnen Erscheinungsformen eines Orchester-Spielens vorzustellen, das sich vom gängigen Erscheinungsbild eines Orchesterkonzerts mehr oder weniger konsequent abwendet. Die Programme der vier Konzerte hatte Harry Vogt, der Leiter der Neue-Musik-Redaktion des Senders, mit gewohnter Weite der Perspektiven konzipiert.

Grob gerastert betrachtet, lassen sich zwei Wege bezeichnen, die Komponisten der Gegenwart beschreiten, um das Orchesterspiel neu zu definieren und strukturieren: Da ist einmal die „Re-Individualisierung“ des einzelnen Musikers, Versuche, im Kollektiv dem einzelnen Instrumentalisten wieder zu individueller Darstellung zu verhelfen. Michael Gielen nannte eine seiner Kompositionen über das „Thema“ deshalb „Mitbestimmungsmodell für Orchestermusiker und Dirigenten“ – die Musiker konnten in einer offenen Spielform über den Ablauf der Komposition mitentscheiden. Vinko Globokar, Hans Zender oder Rolf Gehlhaar entwarfen ähnliche „Modelle“. Auch die „Quartets I – VIII“ von John Cage, 1976 entstanden, zählen zu den experimentellen Versuchen, den Begriff „Orchester“ anders zu definieren: in den „Quartets“ agieren im Orchester jeweils nur vier Spieler, aber die vier Akteure wechseln von Phase zu Phase, so dass immer neue Klangmischungen und andere Positionierungen entstehen, je nachdem, wo im Orchester die jeweils agierenden Musiker sitzen.

Diese räumliche Dimension charakterisiert zugleich den zweiten Weg der Veränderungen im Orchesterspiel: die Aufteilung und Aufstellung der orchest-ralen „Totalität“ im Raum, in die auch von Fall zu Fall das Chorensemble einbezogen ist. Dieses „Klang–Raum-Denken“, das bevorzugt auf die venezianische Mehrchörigkeit der Brüder Gabrieli zurückverweist, beherrscht in der Gegenwart wesentlich das Komponieren eines Stockhausen, Boulez („Rituel“) oder Luigi Nono, und so war es dramaturgisch „richtig“, in das Programm der vier Kölner „Orchester-Gruppen“-Konzerte mit Nonos „No hay caminos, hay que caminar...Andrej Tarkowskij“ für Orchester in sieben Chören und John Cages „Quartets“ zwei signifikante Werke gleichsam als Wegzeichen aufzupflanzen, um die sich dann die jeweiligen Uraufführungen gruppierten.

An Cages „Quartets“ orientieren sich sowohl Caspar Johannes Walters „Gesang der Töne (aus der Ferne)“ als auch Juliane Kleins „vertikal“: Bei Walter ständig wechselnde vierstimmige Akkorde in ständig sich ändernden solistischen Quartettbesetzungen, bei Juliane Klein zwei Dutzend Musiker, mal als Quintett, als Duo und sechsmal als „Trio“ eingesetzt: Beide Stücke entwickeln ein spannungsvolles Mit-und Gegeneinander von „fließender“ Formulierung und gespannter Intervallik, voll reizvoller harmonischer Wendungen bei Walter, strukturell variabel und transparent bei Klein. Alle drei Werke wurden kompetent vom Ensemble Resonanz unter der Dirigentin Sian Edwards erarbeitet.

Nach den „Orchester-Kammern“ von Cage, Walter, Klein ging es in die „Orchester-Räume“ von Nono, Rebecca Saunders und Emanuel Nunes. Rebecca Saunders‘ „duo four - two exposures“, double concerto für Trompete, Schlagzeug und Orchester, „malt“ förmlich eine reich facettierte „Klanglandschaft“ in den Raum, zusammengefügt aus den Klangaktionen der beiden Solisten und der sie umstellenden Instrumentalisten. Kräftige Farben, harte, physisch spürbare Attacken, gestische Direktheit der Musik gehen schließlich in eine traumatische, fast impressionistisch wirkende Beruhigung der Klänge und Bewegungen über: Faszinierend und irritierend zugleich.

Faszinierend, irritierend auch Emanuel Nunes‘ „Musivus“ für Orchester in vier Gruppen. Ständig wiederholte, kurze, rhythmisch prägnante Klang-Mosaike (Musivus) werden von den Orchester-Gruppen, die nicht im Raum postiert sind, vielmehr unterteilt auf dem Podium sitzen, zugleich zu einem scheinbar unendlich fortschreitenden „Klang-Teppich“ geknüpft und wie Vektoren in der linearen Algebra gleichsam unsichtbar in den Raum geschickt. Wenn sich das engagiert agierende WDR-Sinfonie-Orchester Köln unter Emilio Pomárico noch zwei, drei weitere Proben gegönnt hätte, wäre der imponierende Eindruck, den Nunes‘ „Musivus“ hinterließ, sicher noch eindringlicher ausgefallen.

Dass auch Orgel und Chor orchestrale „Operationen“ auszuführen vermögen, ist eine musikalische Binsenweisheit. Im dritten Konzert, bezeichnenderweise „Chor, orchestriert“ betitelt, demonstrierten das Iannis Xenakis mit seiner „Serment“-Komposition für Chor von 1981 auf einen Text des Hippokrates sowie in Uraufführungen Johannes Schöllhorn, Charlotte Seither und Adriana Hölszky. Schöllhorn webt in „Senza parole“ für 32-stimmigen Chor das Stimmengeflecht so raffiniert, dass weder der Eindruck eines chorischen Unisono noch von solistischen Parallelaktionen entsteht: wahrhaft ein Chor-Orchester. Hölszkys „umspinxt...ein Rätsel für Raubvögel“ für 48 Stimmen auf einen Nietzsche-Text wirkt wie mit Klangmaterialien gemalte „Geräuschfelder“ (Hölszky), wie sie sonst nur ein Orchester zu erzeugen vermag. Auch dies hinterließ einen suggestiven Eindruck. Fabelhaft der WDR-Rundfunkchor unter Thomas Eitler. Charlotte Seithers „Himmelsspalt“ für Orgel (Bernhard Haas) wirkte im Zusammenhang mit dem Orchester-Thema vielleicht doch etwas zu eng konzentriert auf spezifisch orgelästhetische Komponierfragen: Interessant und ein wenig peripher.

Wenn ein Komponist acht Kontrabässe, Schlagzeug und Klavier oder vier Flöten, vier Fagotte und Klavier zusammenstellt, wird man in der Regel nicht von einem Orchester sprechen. Wenn der Komponist aber Galina Ustwolskaja heißt, dann verändern sich schlagartig die Perspektiven. So ergab sich der Sinn, Ustwolskajas „Komposition I – III“ in die „Orchhester-Gruppen“ zu integrieren, quasi von allein. Reinbert de Leeuw und das von ihm geführte Schönberg Ensemble Amsterdam entfalteten in den Kompositionen über die ungewöhnlichen instrumentalen Besetzungen hinaus die in die Werke einkomponierten symphonischen Dimensionen, deren Ausdrucksgewalt, Beredtheit wie weit gespannte Gestik. Orchestermusik ohne jeden Vergleich. Ein eratischer Block in einer Musiklandschaft, in der nur ein einziger Mensch lebt.

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