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Ana Fernández Guerra, Luzia Tietze. Foto: © Paul Leclaire
Ana Fernández Guerra, Luzia Tietze. Foto: © Paul Leclaire
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Zur Kuschellüge verharmlost – „Pünktchen und Anton“ an der Kinderoper Köln

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Die deutsche Erstaufführung von Iván Eröds Kinderoper nach Erich Kästners 1931 erschienenem All-Age-Roman „Pünktchen und Anton“ berührt eine Grundsatzfrage: Wie arglos oder investigativ darf (Kinder-)Theater sein? Die Stream-Inszenierung von Brigitta Gillessen für die Kinderoper Köln verharmlost Kästners Sozialstudie und menschliche Utopie. Damit bedient sie den retro-naiven Gehalt der Partitur keim- und bedenkenfrei.

Der österreichische Musikprofessor Ivàn Eröd (1936 bis 2019) machte Mozarts Vogelfänger-Arie aus der „Zauberflöte“ zu einem ganzen Orchesterzwischenspiel. Das mag noch als Tribut an den Uraufführungsort Wien durchgehen, wo die Kinderoper „Pünktchen und Anton“ im Kinderzelt auf dem Dach der Staatsoper 2010 ihre Uraufführung feierte. Harmonisch delikater und nicht aufs erste Ohr erkennbar wird es, wenn die großbürgerliche Tochter Pünktchen und der seine kranke Mutter aufmunternde Knabenproletarier Anton sich humperdinckisch anhänseln und -greteln. Für die kriminellen Figuren rührte Eröd in Weills „Moon of Alabama“ und Tangos mit wenig Tabasco für zu viel Vanille. Harutyun Muradyans Bemühungen um kreuzbrave Klänge sind so korrekt wie die umsichtig gemalten Kulissenteile mit den Backstein-Mauerbögen der Berliner Gleisbahnen als dunklem Hintergrund. Dieser Stream gerät heiter und wolkenlos, „denn Suppe ist für alle da.“ – Digitales Opernopium fürs Kindervolk.

Helikopter-Eltern können ihre Sprösslinge ab 5 Jahren also sorgenfrei vor dem großen Monitor parken, wie im Didaktik-Padlet der Kinderoper empfohlen. Auch das Gendering ist vorbildlich. Diskussionsanreize bietet die Frage, warum die Regie vormoderne Geschlechterrollen (Hausangestellte – Einbrecher) ohne visuelle Kritikinstrumente weiterträgt und nicht hinterfragt. Der Bogen „Beobachtet!“, den das digitale Publikum während des Anguckens ausfüllen darf, erfordert einfache Arithmetik- und Wortkenntnisse. Er vermeidet geschickt alle Fragestellungen, welche den ethischen Wert und die Systemrelevanz von Theater als Forum des gesellschaftlichen Dialogs bestätigen könnten.

Eine wirkungsvolle Spannungsdynamik ist in dieser Oper, in der das Ensemble insgesamt spielerisch akzentuierte Leistungen zeigt, offensichtlich unerwünscht. Die jugendlichen Zuschauer*innen sollen sich nicht empören müssen. Deshalb wurde die Hörigkeit des Kindermädchens Fräulein Andacht (Maike Raschke) an den kriminellen Robert (Dustin Drosdzok) zur Nascherei an einer Berliner Weißen heruntergespielt. Die Allianz von Pünktchen (Ana Fernández Guerra) und Anton (Luzia Tietze) ist deshalb eine so glanzvolle Utopie Kästners, weil sie Kasten- und Milieu-Mauern überspringt. Eröd und sein Textautor Thomas Höft machten aus den Erwachsenenfiguren – bei Kästner sind sie mindestens so subtil wie die Charaktere von Minona oder Christopher Isherwood – eindimensionale Gutmenschen. Die Ausstattung (Jens Kilian) und die Musik lifteten ordnungsverliebt sogar deren Schönheitsgrübchen weg. Nur an der Blässe von Antons Mutter Frau Gast (Eva Budde) erkennt man, dass die gentrifizierte Berliner Luft Spuren von Prekariatssmog enthält. So wird Kinderoper zum überprotektiven Rauchmelder.

Ausrutscher in Musiktheater darf und muss es geben. Zutiefst ärgerlich an dieser Produktion ist allerdings, dass sie Wirkungsmöglichkeiten von Musik und Theater zur Kuschellüge verharmlost und sich aus der diskursiven Schusslinie begibt von dem, was Musiktheater für die im Lockdown gesellschaftsentfremdete Zielgruppe leisten könnte. Im Vergleich zu Kästners feinsinniger, so gar nicht saubermännischer Prosa und deren zahlreichen Schauspiel-Adaptionen gerinnt in dieser Stream-Fassung Antons und Pünktchens Abenteuer zur guten Tat von privilegierten Sonntagskindern. Bei Kästner waren die Kleinen gegenüber den Erwachsenen ganz groß, weil sie (noch) nicht deren paradoxe Flausen verinnerlicht haben. Das ist schwer zu verstehen, wenn es wie in Eröds Oper und dieser Produktion nicht Eltern geben darf, die aus Zeitmangel und Prestigesucht ihrer Tochter zu wenig Nestwärme geben und Pünktchen sich diese deshalb woanders holt. Dieser Stream ist also so lebenswahr wie das Märchen vom Rotkäppchen und dem herzensguten Wolf. Mit einer Ausnahme beseitigt man alle dramaturgischen Risiken: Wenn junge Zuschauer sich bei ihren ersten digitalen Opernerlebnissen langweilen oder digitale Oper als Fortsetzung des Schulunterrichts funktionalisiert wird, hat das Auswirkungen auf die Zuschauerzahlen des Publikums von morgen.

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