Es kann alles so einfach sein. Seit 2002/2003 ist der Dirigent Errico Fresis musikalischer Leiter der Opernabteilung und Leiter des Studiengangs Gesang/Musiktheater an der UdK Berlin. Dort setzte er sich von Beginn an für die Anreicherung des Studiengangs mit Neuer Musik ein. Im Rahmen dieser Bemühungen hat er gesehen, dass die Biennale München diese Extraprogramme mit den Musikhochschulen macht und ich dachte, ich schreibe den Intendanten Peter Ruzicka an. Natürlich erwartete ich keine Antwort. Ich war total überrascht als mich zwei, drei Tage später eine persönliche Nachricht von ihm erreichte. „Selbstverständlich, wir sind interessiert, ich bin dann und dann in Berlin, lassen Sie uns treffen.“ Das war vor zwei Jahren.
Jetzt ist die Produktion des Stückes „A Game Of Fives“ in den letzten Zügen, die szenischen Proben und Durchläufe erfolgen gerade in Berlin. Am 15. und 16. Mai muss das Stück sich dann im Rahmen der 13. Münchener Biennale vor Publikum beweisen, im Orff-Saal in München. Stolpersteine gab es dazwischen genug. Für diese Produktion arbeiteten nicht nur zahlenmäßig viele Personen zusammen, was bei einer Oper nicht ungewöhnlich ist, sondern viele in unterschiedlichen künstlerischen Reifephasen sich befindende: Mehr oder minder „freie“ Profis wie der Regisseur Enrico Stolzenburg oder die Dramaturgin Marion Hirte, Dozenten der UdK wie Errico Fresis als musikalischer Leiter, Absolventen oder Meisterklassenschüler wie die Komponisten (Cathy van Eck, Iñigo Giner Miranda, Leah Muir, Yoav Pasovsky, Abel Paúl) und Auszubildende wie die Sängerinnen und Videokünstler, womit längst nicht alle genannt sind. Ebenso umfassend beteiligt sind auch die Institutionen der UdK Berlin, die mit dem Institut für Neue Musik bis zur Hochschule für Musik Hanns Eisler reichen.
„Es war eigentlich die Absicht des Projektes, zu versuchen, zusammenzubringen, was eigentlich nie zusammenkommt“, so Errico Fresis. Die losen Verbindungen, die schon existierten, waren zu organisieren: „Bei einem ersten Treffen, das unverbindlich und rein experimentell stattfand, hat man auch gesehen, dass die Distanzen, die man überwinden muss, sehr groß sind. Die einen sprechen eine Sprache und die andere eine andere. Zusammen kommen sie durch den Zwang der Aufführung, der verursacht, dass einerseits bestimmte Sachen, die sonst auf ewig in der Luft bleiben würden, konkretisiert und der Praxis entsprechend umgesetzt werden mussten.“
Alle Beteiligten mussten im Verlauf des Erarbeitungsprozesses aufeinander zugehen. Die Sängerinnen hatten neue Vokaltechniken zu lernen, die Komponisten mussten sich mit Regiefragen beschäftigen. Und, wie man hören wird, haben die Komponisten sich untereinander in Beziehung gesetzt – mal mehr, mal weniger. Das kann dann auch schon mal ein wenig bitter sein: Unter den Sängern war ursprünglich auch eine männliche Stimme vorgesehen, „aber im Laufe der Entwicklung des einen Stückes, wo er mitwirken sollte, hat sich herausgestellt, dass man ihn leider nicht braucht“, erklärt Errico Fresis, bedauernd und schmunzelnd zugleich.
Die fünf Komponisten arbeiten mit bisweilen vollkommen verschiedenen Techniken. Sie reichen von der objektiv notierten Partitur bis zur experimentellen Performance. Um das unter einen Hut zu bekommen, benötigte man einen Faden, „der zwar nicht als Handlung im herkömmlichen Sinne, aber trotzdem als geistige Verbindung des gesamten Abends dient. Wir haben gemeinsam mit unserer Dramaturgin, Marion Hirte, verschiedene Ideen gehabt und viele verworfen, wahrscheinlich mehr verworfen als wir gehabt hatten, bis man eben auf diese fantastische Welt von Lewis Carroll kam. Die Welt von Lewis Carroll beinhaltet sehr viele Elemente, die bereits vorhanden waren: Er war Mathematiker, und alles bei ihm ist sehr streng berechnet – einerseits. Andererseits ist das Absurde, das Umgekehrte, das Paradoxe sehr präsent. Die Umkehrung des Virtuellen gegenüber dem Realen ist das Stichwort, das war genau die Verbindung, die wir brauchten. Würde der Name von Lewis Carroll nicht draufstehen, würde man nie darauf kommen, dass er dabei war“, resümiert Fresis.
Auf die Bühne kommt keine „Alice im Wunderland“-Oper. Carroll bot mit seiner literarischen Technik allein den willkommenen Anlass für Reflexionen über Reflexionen, hier also über Spiegel und Täuschungen. Auseinandersetzungen mit der Logik der Unlogik ist eher die Thematik, die das Werk durchzieht.
Aber wozu die Regie? Genau dafür: „Das Interessante bei der Regiearbeit von Enrico Stolzenburg ist, jemanden zu treffen, der, anstatt zu sagen, ich reduziere das auf eine vermeintliche Wahrnehmung eines gemeinsamen Nenners beim Publikum, einen anderen Ansatz verfolgt. Er schafft den Raum, in dem diese verschiedenen Ebenen koexistieren können, sei es im linearen Ablauf von Komposition auf Komposition, sei es im parallelen Ablauf, denn was die Videokünstler machen werden, ist eine Parallelgeschichte, die ebenso frei und selbstständig läuft.“
Sicherlich hätte man sich die ganze Angelegenheit einfacher machen können mit einem Mastermind an der Spitze, dem die Künstlertruppen folgen. Der Weg an der UdK ist ein anderer. Er versucht, Kunst und Lehre zusammenzuführen. Es hat den Anschein, als sei das gewählte Sujet ein Spiegel der Konstruktion der organisatorischen und zeitlichen Abläufe. Wie macht man aus Nichts, was Etwas ist, aber das Ganze bezeichnet, ein Ganzes, das nicht Nichts ist. Gleichzeitigkeit und Sequenz mischten sich in der Erarbeitungsphase mit Selbstkorrekturen. Der Faden der Produktion ist in Wahrheit ein Netz, das allerdings nicht als Sicherungsnetz über dem Boden gespannt ist, sondern über und in den Köpfen der Beteiligten selbst.
Eigentlich ein Wunder, wenn es tatsächlich funktionieren sollte. Fresis: „Jeden Tag, wenn ich aufstehe, denke ich: ‚Um Gottes Willen, das wird nie gehen.‘ Das reicht von den kreativen Prozessen bis zu den rein organisatorischen wie Hotelreservierung und Reiseabrechnung. Wir wissen ja auch von jeder Uraufführung, dass man bis zum letzten Moment – und wahrscheinlich auch während der Premiere – das Gefühl hat: Es wird nie klappen, es ist schrecklich und wir werden jetzt Tomaten bekommen. Aber das ist ein subjektives Gefühl, das damit zu hat, dass man ständig mit dem Beseitigen von Stolpersteinen beschäftigt ist.“