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Staatskapelle Halle, Dirigent: Michael Wendeberg, auf der Bühne dahinter v.l.n.r.: Marie Friederike Schöder (Jana), Tehila Goldstein (Hennny). Foto: © Theater-, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Falk Wenzel
Staatskapelle Halle, Dirigent: Michael Wendeberg, auf der Bühne dahinter v.l.n.r.: Marie Friederike Schöder (Jana), Tehila Goldstein (Hennny). Foto: © Theater-, Oper und Orchester GmbH Halle, Foto: Falk Wenzel
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Zuschauer unter Beschuss: Uraufführung der Oper „Sacrifice“ von Sarah Nemtsov und Dirk Laucke an der Oper Halle

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Für jedes Jahr eine Musiktheater-Uraufführung ist der Wunsch von Halles Opernintendant Florian Lutz und er verdichtet die Achse von zeitgenössischer Dramatik zur Gegenwartsmusik. Jetzt, im zweiten Zyklus auf der Raumbühne Heterotopia Sebastian Hannaks, geht es los: Die in Berlin lebende Komponistin Sarah Nemtsov (geb. 1980) nennt ihr viertes Musiktheater-Werk „Sacrifice“ eine „Oper in vier Akten“, das Textbuch schrieb der aus Halle stammende Dramatiker Dirk Laucke (geb. 1982). Beide thematisieren auf mindestens fünf Ebenen heutige Migrantenbewegungen und Erschütterungen von Lebensentwürfen auf für Hörer und Zuschauer extrem fordernde Weise.

Der Titel „Sacrifice“ schlägt die Brücke zu einem Vers aus einem afghanischen Gedicht, zugeschrieben den Taliban. Dieser gliedert die Oper wie ein Refrain: „Möge ich geopfert sein“ – „May I be sacrificed“. Dazwischen überlagern sich Aktionen und Zustände. Zum einen der vielerörterte Aufbruch zweier Mädchen 2014 aus Sangerhausen nach Syrien, um in den Dschihad zu ziehen. Parallel nimmt 2015 ein deutsches Ehepaar eine Gruppe Flüchtlinge auf und durchmisst alle Stufen des Diskurses über Nächstenliebe. Ein Syrer (Gerd Vogel) wartet in Istanbul auf sein Einreisevisum nach Deutschland. Drei JournalistInnen (sie stehen für Wort, Bild, Ton) diskutieren im Krisengebiet über Wert, Funktion und vor allem den Sinn von Nachrichten. Das betrifft auch „Sacrifice“ selbst, die Oper genauso wie ihre Wiedergabe. Und über allem reflektiert die Inszenierung von Florian Lutz noch die Ratlosigkeit der Komponistin kurz vor Probenbeginn: Welchen Schluss findet sie im Spannungsfeld von Opfern und Oper?

Eine Aufführung von „Sacrifice“ auf einer Guckkastenbühne ist schlichtweg unvorstellbar. Werkstruktur und Assoziationsfülle erfordern einen multifunktionalen Raum für die mittelgroße Orchesterbesetzung mit E-Gitarre, das umfängliche Sound Environment und das leistungsstarke Solistenensemble. Hausherr Florian Lutz spart an nichts und fordert alle Ressourcen der Oper Halle für den Großeinsatz. Auch nicht die umfassendste Mediendokumentation könnte die die Überfülle der Mittel und Eindrücke spiegeln. Das Publikum sitzt auf der Drehscheibe der Hauptbühne, die von Michael Wendeberg mit dem gesamten Klanggeschehen koordinierte Staatskapelle Halle auf dem hochgefahrenen Orchestergraben. Langsam dreht man zu den jeweils wichtigen Aktionen. Pausenlose zwei Stunden dauert das Kreuzfeuer von Projektionen, Monitoren, klanglicher Überwältigung, vokalen Aktionen, gedankentiefen Dialogen. Sogar von der schwindelnden Höhe des Schnürbodens singen die Solisten ihre für die Frauen in aberwitzig und anstrengend hoher Lage notierten Parts. Flüchtlingsscharen bleiben auf dem Boden, AfD-Demonstranten ziehen gipfelstürmend über Projektionen hehrer Berglandschaften dort, wo sonst die Zuschauerränge sind. Video (Konrad Kästner) und Vermittlungsdramaturgie (Michael von zur Mühlen) bilden wichtige Schaltstellen, ohne beide geht nichts.

Der ultimative Gegenwartsbezug und die Ratlosigkeit ohne Ausweg machen befangen. Die Oper ist Fragment oder gibt sich als solches. Die Frage nach dem Weiter steigert ihren Wert als Dokument gegenwärtiger Erschütterungen und Orientierungslosigkeiten. Diese radikale Leistungsschau überlagert sicher noch andere Sinnangebote von „Sacrifice“. Die Uraufführung führt in die rabiate Überwältigung des Publikums. Bilderfluten imponieren, zermürben aber auch den Willen zum Verstehen. Kathartisches Mitgefühl und emotionale Teilhabe ermüden deshalb.

Wie Benjamin Schweitzer bei „Südseetulpen“ in Chemnitz haben anscheinend weder Sarah Nemtsov noch Dirk Laucke aufrichtiges Vertrauen zur Gattung Oper. Die langen Dialoge der Journalisten (Nils Thorben Bartling, Sybille Kress, Frank Schilcher sind Schauspieler) sind ein Hörspiel zur Mediensoziologie. Dagegen artikulieren sich die beiden Mädchen (Marie Friederike Schöder, Tehla Goldstein) fast nur in wortlosen Vokallinien. Als Teil des künstlerischen Räderwerks müssen sie den ganzen Abend mit dem technischen Arsenal konkurrieren. Dabei erlebt jeder Zuschauer die Musik anders, durch die Bewegung der Sitze ändern sich Raum- und Klang-Proportionen nicht nur der weit voneinander stehenden Schlagwerke und der eng geführten Streichergruppen. Der Übergang von Musiktheater und Installation ist auch deshalb fließend, weil Sarah Nemtsovs Partitur kaum Anhaltspunkte für einen wirklich zwingenden linearen Ablauf gibt.

Am Ende sehen sich die Zuschauer selbst wie im Fadenkreuz-Monitor einer Schussanlage. Schon zuvor erlahmt der innere Widerstand gegen die massiven Drohgebärden dieser gigantischen Show. Immer wieder imitiert der volle Orchesterapparat Schusssalven und militärische Geräusche. Sarah Nemtsov treibt mit ihren Musiken Technik und Drama immer weiter auseinander. Es fehlen – das ist künstlerisches Prinzip – die Mittelstimmen. In den Szenen der engagiert-biederen Frau (Anke Berndt) und des vorbildlich genderliberalen Mannes (Vladislav Solodyagin) gibt es berührende Momente von menschlicher Interaktion. Bei solchem Innehalten hat das von der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung finanzierte Auftragswerk Kern und Seele.

  • Wieder am 7. / 8. /11. März, 18. / 22. / 23. / 25. Juni 2017 – www.buehnen-halle.de, Tel. 0345-5110-777

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