Als letzte Uraufführung der diesjährigen Münchner Biennale für neues Musiktheater ging „The Damned and the Saved“ über die Bühne der Muffathalle. Was Komponistin Malin Bång aus der Vorlage von Pat To Yan gemacht hat, ergibt den schlüssigsten Premierenabend des Festivals, findet Juan Martin Koch.
Nach Krieg und Vertreibung, Alltagsrassismus sowie Brexit- und Pandemieerfahrungen geht die letzte Uraufführung der diesjährigen Münchner Biennale ein weiteres aktuelles Krisenthema an: den Widerstand gegen ein totalitäres Regime. Der 1975 in Hongkong geborene Pat To Yan skizziert in seinem englischen Textbuch zu „The Damned and the Saved“ die Lebensläufe zweier Dissidentinnen, die sich in einem Foltergefängnis kennen lernen. In der Zelle nebenan eine Leidensgenossin zu wissen, hat sie überleben lassen. Sara und Dana wählen nach ihrer Freilassung unterschiedliche Wege: Während Sara dem bürgerlichen Leben einer Schokoladen-Confiseuse nachgeht und mit ihrem Laden den Widerstand unterstützt, kämpft Dana mit letztlich tödlicher Konsequenz weiter im Untergrund.
Pat To Yan stellt diese Handlung nun aber nicht in einen realen historischen oder aktuellen Zusammenhang, sondern verfremdet sie zu einer absurden Märchendystopie. Beim despotischen Herrscher handelt es sich um einen namenlosen König, der „buchstäblich“ eine Maschine ist. Füttern lässt diese sich durch den bei regimekritischen Demonstrationen anfallenden datenrelevanten Müll, den ihm ein devoter Sammler zuführt (Schauspieler Matthias Breitenbach ist auch als Perkussionist und rhythmischer Sprecher gefordert). Als hätte Christopher Nolans „Inception“ Pate gestanden, wird Widerstand gegen ihn mittels Infiltrierung von Träumen organisiert. Dana gelingt es, Bomben in des Königs Traum zu zünden; um einer Festnahme und erneuter Folter zu entgehen, wählt sie den Freitod.
Malin Bång hat sich diese Vorlage konsequent zu eigen gemacht und zieht ihren musiktheatralen Ansatz mit einer dem Sujet angemessenen Unerbittlichkeit durch. Sie hat den Text etwas gekürzt, belässt ihn ansonsten aber, überwiegend von Schauspielerinnen gesprochen, in großer Klarheit. Zwei Sängerinnen (stimmlich wie darstellerisch hervorragend: Johanna Greulich und Eva Resch) doppeln die beiden Protagonistinnen als Echos von Danas und Saras Seelenzuständen, gehen dabei aber selten über Vokalisen und andere textlose Gesangstechniken hinaus.
Das zehnköpfige Instrumentalensemble liefert mittels differenziertester, mal am Rande der Wahrnehmbarkeit angesiedelter, mal körperhaft präsenter Klanghervorbringungen eine zusätzliche, mit Text und Gesang aber immer eng verwobene Hörebene. Zusätzlich zu den vielen von zwei Perkussionisten zu bespielenden Materialien bedienen auch die Bläser und Streicher neben ihrem eigentlichen Instrument jede Menge weitere Tonerzeuger. Eine wichtige, die düstere Gesamtstimmung ein wenig abmildernde Farbe bringen dabei kleine Kalimbas ein.
In der großen Kastenform, als Marimbula, wird das Daumenklavier vom Traumdeuter als Sammelkiste für Träume benutzt. Vor allem in dieser größten Gesangspartie (sängerisch und in den anspruchsvollen Tanzelementen gleichermaßen bewundernswert: Ilya Lapich) verlangt Bång eine an das aus der nordischen Volksmusik stammende „Kulning“ angelehnte Technik, eine Mischung aus Oberton-, Kopfstimmen- und Kehlkopfgesang. Dieser greift beim Übergang von der dritten Szene („Traumdeutung“) zur vierten („Verrat“), zwischen denen drei Jahre vergehen, auch auf das Instrumentalensemble über. Das Private ist politisch geworden, die Nutzbarmachung des „Poetischen Utopia“ – so wird die Traumkiste auch genannt – zu Widerstandszwecken wird gleichsam als ein chorisches Ritual vollzogen.
Die Komponistin widersteht jedoch klug der Versuchung, diese Allegorie auf das Potenzial von Kunst und Kultur, durch Bewusstseinsbildung radikale politische Veränderungen herbeizuführen, hymnisch zu überhöhen. Stattdessen geht es im weiteren Verlauf, wenn die Königsmaschine zur Implosion gebracht wird, auch akustisch handfest zur Sache. Von Demoparolen über Megaphon angeheizt beteiligen sich alle Akteure, auch die Musiker, an der lautstarken Zertrümmerung des Blechungetüms.
Dank des ingeniösen Bühnenkonzepts von Regisseurin Sandra Strunz und ihrer Ausstatterin Sabine Kohlstedt ist dies eben jene Maschine, in deren Inneren in den ersten, quälend langen Minuten Dana und Sara von unsichtbaren Kräften gefoltert worden waren. Was Sandra Strunz den überragenden Darstellerinnen Maria Munkert (Dana) und Jessica Higgins (Sara) in dieser, noch vor Einsetzen der Musik zusätzlich zu Libretto und Partitur sich abspielenden Szene an zitterndem Keuchen, an zuckenden, blutverschmierten Verrenkungen abverlangt, ist eine bewusste Zumutung an das Publikum. Sie bildet den schmerzhaft nötigen Hintergrund, oder besser Abgrund, vor dem sich der knapp 90-minütige, in jeder Phase szenisch-musikalisch zwingende Abend entfaltet.
Großen Anteil daran hat auch Rei Munakata, der mit rhythmisch präzisen, dabei immer sprechenden Gesten die multiplen Klangerzeugungen der Mitglieder des Orchesters des Nationaltheaters Mannheim mit dem Geschehen auf der direkt angrenzenden Bühne koordiniert, in das diese bisweilen auch selbst eingreifen.
In einem abschließenden Dialog reflektieren die am Leben gebliebene Sara und die tote Dana ihre Lebensentscheidungen und erinnern sich an die Zeit gemeinsamer Träume. Aber es ist nur „Eine Art Versöhnung“, so die Überschrift der letzten Szene, und so hallt vor allem Saras lapidare Erkenntnis nach: „This era is still full of shit.“