Hauptrubrik
Banner Full-Size

Zwischen Anarchie und Diversität

Untertitel
Der Festivalkongress UPGRADE zeigte große Bandbreite bei der Vermittlung Neuer Musik
Publikationsdatum
Body

Am Ende herrschte absolute Anarchie. Nein, vielmehr deren Überwindung durch die Teilnehmenden selbst. Andere Kongresse schließen meist im Plenum. Dozenten, Workshopleiter und andere Verantwortliche präsentieren ihre Ergebnisse und Erkenntnisse der vergangenen Tage in geregelter und strukturierter Form.

Nicht so bei UPGRADE in Donau­eschingen, einer Konferenz, die Ende März zum zweiten Mal stattfand und diesmal den Fokus auf die Möglichkeiten der menschlichen Stimme gelegt hatte: Der Bremer Komponist Christoph Ogiermann hatte mit der „Konferenz der Stimmen“ eine Struktur nach dem Zufallsprinzip für die Ergebnispräsentation vorgegeben: Sekundengenau waren vorab Zeitblöcke für alle Vorstellenden vergeben worden, teilweise gab es verpflichtende Querzuordnungen zwischen einzelnen Tagungspunkten, und jedem Ereignis war einer von fünf Orten im Raum zugeordnet. Gnadenlos wurde am Ende der zur Verfügung stehenden Zeit Licht und Mikrofon abgestellt. Meist überlappten sich Ereignisse: Interviews wurden von Chorbeiträgen untermalt oder von Video- und Audioeinspielungen überlagert. Zusätzlich gab es mittig zwei fürs Publikum offene Mikrofone, über die sich alle absolut basisdemokratisch beteiligen konnten durch Nachfragen, Gegenstatements und Gedankenfetzen: alles in allem eine bewusste Überforderung der Sinne, eine deutliche Überschreitung der Rezeptionsgrenzen bei vielen. Frust und Unverständnis über den chaotisch wirkenden Ablauf machten sich besonders bei den Landesjugendchorsänger/-innen Baden-Württembergs und des Saarlands breit: Als eine im Programmablauf vorgesehene Podiumsdiskussion mit einigen Mitmusikern (über deren Unmut durch die „Spielregeln“) wie geplant zwangsbeendet wurde, gipfelte das in einem spontan initiierten gemeinsamen Abwenden vom geplanten Fortlauf. Mehr und mehr Sänger/-innen scharten sich um die trotzig weiter Diskutierenden. Das führte schlussendlich zum Abbruch aller anderen Ereignisse und zum gemeinsamen Bereden und Verarbeiten der gesammelten Eindrücke: eine faszinierende Wendung und keinesfalls ein Scheitern des Konzepts, im Gegenteil eher eine der konzept-inhärenten Möglichkeiten – auch wenn die im weiteren Verlauf geäußerten Wünsche der jungen Teilnehmer nach Vorgaben, nach Schranken doch erschreckend brav bis reaktionär wirkten, immerhin hatten sie dafür aufbegehrt!

Das Geschehen ist daher auch eine Mahnung, die eigene Offenheit Neuem gegenüber nicht überheblich als Entwicklungsvorsprung wahrzunehmen, sondern immer wieder selbst das geduldig erklärende und herzhaft begeisternde Gespräch zu führen. UPGRADE verhandelte in den Vortagen unterschiedliche Vermittlungsansätze für Neue Musik. Musikalisches Highlight war das selbst moderierte Konzert der Neuen Vocalsolisten Stuttgart: ein Staunen machendes Feuerwerk der Stimmmöglichkeiten, mit Humor gespickt und am besten als vokales Kammermusiktheater beschrieben.

Ein Ausschnitt aus Stockhausens Licht-Zyklus war noch das biederste Musikstück neben Werken von Ronchetti, Bauckholt, Vivier und Ogiermann (ebenfalls ein Beitrag mit 360°-Reizüberflutung: intensiv und genial!). Dagegen blieb sogar das fachlich sehr gut moderierte und stimmlich ebenfalls hochwertige Konzert des SWR Vokalensembles blass. Insgesamt vier Landesjugendchöre führten eine Komposition (besser: Anleitung zu möglichen Konzeptmusiken) von Iris ter Schiphorst auf. Völlig unterschiedliche, alle auf ihre Weise kreative „Stücke“ kamen zur Aufführung. In dem vorangegangenen Probenprozess, „allein“ gelassen, ohne Partitur als Ankerpunkt, auf sich selbst als Gruppe zurückgeworfen, steckte schon die Keimzelle der später heftig geäußerten Unzufriedenheit, dem Wunsch nach Halt und Vorgaben.

Ein Workshopangebot rundete das Programm ab, indem die Vielfalt der Musikvermittlungsansätze aufgezeigt wurde: jazzinspirierte (freie) Gruppenimprovisation, „selbstsingende Chöre“ (im Sinne von basisdemokratisch) und Klassenkomponieren, bei dem Musik auch Vehikel war für soziale Kompetenzen wie Teamgeist und Kommunikation. Auch der begleitende Schülerblog dieser Zeitung war auf seine Art musikvermittelnd: Recherchierend, im Interview und die eigenen Gedanken niederschreibend befassten sich die Teilnehmer mit dem Sujet Neue Musik.

Der Autor ist Mitorganisator und -leiter des erwähnten nmz-Schülerblogs, den Sie unter blogs.nmz.de/upgrade finden.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!