Der vom Autorenteam Bert Brecht und Kurt Weill 1928 mit der „Dreigroschenoper“ eingeschlagene Weg, mit den Mitteln des Showbusiness politische Botschaften zu transportieren, fand 1930 in Leipzig seine Fortsetzung mit „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Die dreiaktige Oper wurde seither vielfältig inszeniert und häufig auch stark gekürzt. Mit einer neuen, kargen Sicht wartet Barrie Kosky nun an der Komischen Oper Berlin auf.
Barrie Kosky sieht Weill’s Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ als Fortsetzung von Schönbergs „Moses und Aron“ – und gar als Mittelstück einer Staffel-Trilogie, gefolgt von „Anatevka“. Die beiden Randstücke hat der Regisseur an der Komischen Oper Berlin eindrucksvoll in Szene gesetzt, „Moses und Aron“ als ein vielköpfig dichtes Spektakel, „Anatevka“ ungewöhnlich puristisch, aller Showelemente entkleidet. Auch seine Sicht auf „Mahagonny“ ist gewöhnungsbedürftig. Dramaturgisch überzeugt die Grundidee der „Netzestadt“, wie die Autoren den Namen Mahagonny definieren, als das heutige Netzwerk in unserer Welt: das Bühnenbild von Klaus Grünberg ist reduziert auf zwei auf beiden Bühnenseiten schräg aufeinander zulaufende Wände mit Netzstruktur-Vorhängen. Werden diese später weggezogen, so enthüllen sie blanke Spiegelwände – als die Selbstbespiegelung des Ego in den heutigen sozialen Netzen. Verblüffend wird die Drehscheibe eingesetzt als doppelter Boden mit drei rechteckigen Öffnungen, in denen die Sängerdarsteller*innen agieren und so zunächst den Eindruck vom Laufen auf Laufbändern erwecken.
Die Erzählweise beginnt gleich mit einem religionskritischen Ansatz: Fatty (Ivan Turšić) und Dreieinigkeitsmoses agieren gemeinsam und tauschen sich aus als Rabbi und als katholischer Priester. Durch die Begegnung mit der Witwe Begbick werden sie gleichgeschaltet, entsorgen Thora und Bibel zugunsten der kapitalistischen Idee, in der Wüste eine Stadt zu errichten. Ideen-Spiegelung und -Vervielfachung erfolgt durch zusätzliche, vom Chor hereingeschobene Standspiegel im Spiegelkabinett des Bühnenraumes.
Nach der Pause tragen alle Mitwirkenden (mit der Ausnahme des Jim Mahoney) schwarze Pailletten-Kostüme (entworfen von Klaus Bruns): quasi nochmals eine vervielfachte Spiegelung der entmenschten Gesellschaft, sich selbst und den Anderen gegenüber. Jim kämpft zunächst mit der Puppe eines Bisons, welcher er dann die Gedärme entnimmt, die Jack O‘Brien (Philipp Kapeller), völlernd bis zum Exitus, in sich hineinstopft. Der Boxkampf findet primär nur in der Versenkung statt, aber um so heftiger gestisch vom Chor kommentiert; blutig wird der von Dreieingkeitsmoses im K.O. besiegte Alaskawolfjoe (Tijl Faveyts) kurz an den Rand der Versenkung gehieft und rutscht dann gleich in die Grube. Der Liebesakt ist reduziert auf nur eine Hure, Jenny, die Freundin von Jim. Der sitzt am Rand der geöffneten Versenkung und schaut dem Treiben zu, wie Einer nach dem Anderen zunächst einen Kaugummi in den Eimer spuckt und sich dann in einem zweiten Eimer die Hände desinfiziert, hinabsteigt und nach dem Koitieren mit heruntergelassener Hose wieder nach oben kommt. Jenny, die sich vor ihrer Profession das Überkleid und den Slip ausgezogen hatte, zieht sich diese nach vollbrachter Arbeit wieder an und singt dazu mit Jim das nachkomponierte, oft gestrichene Kranich-Duett.
Dieses in die Demonstration der vier Stationen des „Alles-Dürfens“ in Mahagonny eingeschoben, ist einer der schönsten und nachhaltig beeindruckendsten Momente des Abends. Die Gerichtsverhandlung gegen Jim, der Alle zum Umtrunk aus Alkoholika-Spendern eingeladen hatte, dann aber seine Zeche nicht bezahlen konnte, ist mit Wippen und Schunkeln choreografisch gelöst. Hier wird Jim vor seiner Todesstrafe von Dreieinigkeitsmoses auch noch geblendet. (Die derzeit an Berliner Bühnen grassierende Orestie lässt grüßen!) Den Jim Mahoney verkörpert der an diesem Haus auch als Candide reüssierende Allan Clayton heldentenoral. Diese Partie sieht Barrie Kosky von Kurt Weill und Bert Brecht als eine Jesus Christus-Figur angelegt, und so arbeitete der Regisseur die Parallelen zu dem Nazarener deutlich heraus. Das gipfelt in einem kollektiven Mord, als Vollzug des Todesurteils, ausgeführt vom gesamten Chor und allen Soli, inklusive der Jenny – mit einem Schnappmesser in einer dafür überlang gedehnten Pause des Musikablaufs. Das gemahnt an Frank Castorf, der in seinen Schauspiel-Inszenierungen häufig gegen Ende des Abends eine überlange Pause einzubauen pflegte. Wie früher in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, so regte sich darob in der Premiere auch in der Komischen Oper an der Behrenstraße der Unmut des Publikums, gipfelnd in „Scheiße“-Rufen.
Noch bizarrer dann das Ende, wo unter anderem die Einkehr Gottes in Mahagonny besungen wird; in einer „Utopie-Dystopie“ ist dies bei Kosky eine gebaute „Gott-Maschine“, ein ferngesteuerter Affe. Ein Dach über ihm trägt die hebräische Beschriftung „Emet“ – die Wahrheit – dessen erstes Zeichen fällt dann herab und so wird daraus „Met“ – Tod –, wie es den Ausführungen des Regisseurs im Programmheft zu entnehmen ist. Dazu singen das Ensemble und der Chor die in Aufführungen zumeist stark gekürzte oratorische Botschaft mikrofon-verstärkt. Anstelle der von Brecht vorgegebenen Demonstration mit Schriftplakaten liegt der tote (Anti-)Held Jim alleine zwischen den sich schließenden Spiegelwänden und einem sich herabsenkenden Lichtkasten.
Entsprechend verhalten fällt der Applaus aus, trotz vieler, berechtigter Bravorufe für einzelne Sängerdarsteller-Leistungen: neben dem exzellenten Tenor Allan Clayton ist es die intensive Nadja Mchantaf als Jenny, und die durch stimmliche Schattierungen dialektisch Subtexte vermittelnde Nadine Weissmann als erbarmungslose Begbick sowie Jens Larson als ein – nicht nur durch die Übernahme der Stimme Gottes in der Schlussszene – merklich aufgewerteter Dreieinigkeitsmoses.
Großartig in Spiel und Gesang der von David Cavelius einstudierte Chor. Ainārs Rubiķis, der Generalmusikdirektor des Hauses, erweist sich erneut als ein sehr fundiert die ambivalenten Spannungsfelder von Weills Partitur – zwischen großer Oper, Chanson, Zirkusmusik und Oratorium – auslotender Sachwalter. Mit dem wohl disponierten Orchester der Komischen Oper verleiht er der über dreistündigen Aufführung der kompletten Partitur Weills immense Spannung und Tiefe.
Selbst als Barrie Kosky auf die Bühne kommt, gibt es dann keine Buhrufe; zu sehr liebt das Publikum seinen Regisseur und Noch-Hausherrn – und akzeptiert (zähneknischend) dessen wieder einmal ungewohnt kargen Ansatz, den im Vorfeld so offenbar keiner der Besucher*innen erwartet hatte.
Weitere Aufführungen: 9., 14., 17., 21., 23., 29. Oktober, 7., 13. November 2021, 1. Juli 2022.