Wie schön: erstmals wurde die Eröffnungspremiere der Münchner Opernfestspiele - bei Haus-Preisen von 243 Euro abwärts - auch als „Oper für alle“ auf großer LED-Wand live auf den Max-Josephs-Platz übertragen. Doch ein halbstündiges Unwetter fegte den Platz zu Beginn zunächst weitgehend leer – fast ein Omen, denn drinnen im Nationaltheater fegte am Ende ein Buh-Sturm das Bühnenteam – nun ja, leider zu spät an. Denn ihre arrogant überhebliche Neudeutung blockiert nun auf Jahre eine dramaturgisch ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem schwierigen Werk.
Der junge Regisseur Antú Romero Nunes wurde von einem Hype um seine postdramatischen Schauspielverhackstückungen emporgespült und durfte nun gleich seine erste Oper zur Festspieleröffnung inszenieren. Über diskutierenswerte Striche der vier auf etwa drei Stunden Musik hinaus setzte Nunes durch, dass die ersten drei Akte zu langen zwei Stunden zusammengefasst wurden, nach der Pause der jetzt reichlich kurze vierte Akt durch die Ouvertüre eingeleitet und verlängert wurde. Weil überall geschossen wird, siedelt Nunes alles im Hier und Heute an: die Schweizer in Kostümen von erlesen geschmackloser Alltäglichkeit bis hin zum Küchenkittel; Frau Tell haut ihrem Gatten schon auch mal die Handtasche ins Kreuz, um ihn zur ehelichen Räson zu bringen; Gesler und seine Besatzertruppe in faschistoidem Schwarz, er selbst im Heydrich-Look, doch zu seinem triumphalen Einzug setzt er sich schon mal kurz einen überdimensionierten Minotauraus-Kopf auf; als Tells Sohn im Wald trauert, tauchen kleine und große Tier-Geister auf; Kinder-Soldaten marschieren herein, werden erschossen und wegtransportiert; ein Teil des Männerchores hat jede Menge Schnellfeuergewehre zuhause, verteilt sie und dann fummeln alle damit hanebüchen
herum – Sieg.
Viel schlimmer wiegt, dass zumindest in der Inhaltsangabe steht, dass Tell den alten Melcthal umbringt, um den Sohn Arnold als Kämpfer gegen Gesler zu gewinnen – dieser mörderische Demagogen-Zug Tells wird dann aber auf der Bühne nicht explizit vorgeführt, auch sein Freiheitsenthusiasmus in der Personenführung nicht glaubhaft gemacht, dafür aber sein cholerisches Temperament und dass er als Meisterschütze Brille tragen muss, aber nicht will … Sein Apfelschuss - statt mit endlos herumgereichter Pistole dann doch mit Armbrust – hallo Werktreue! - ist ein hübscher kleiner Coup heutiger Theatertechnik. Zu all dem hat Florian Lösche im schwarzen Bühnenraum eine Röhrenansammlung geschaffen, die sich anfangs noch als stilisierter Wald akzeptieren ließe, dann aber zum weitgehend sinnentleerten Design-Chic schrumpft. Wie unterentwickelt Nunes’ Gespür für Musik und Gesang als Seelensprache ist, zeigte die intime Arie der Mathilde, zu der quergelegte Röhren dauernd auf- und abfahren. All das weitgehend an der Rampe - kein Musiktheater auf Staatsopernniveau.
Womöglich minderte diese szenische Fadesse auch den musikalischen Eindruck: Dan Ettingers Dirigat wirkte kapellmeisterlich gut, nicht mehr. Der Staatsopernchor wurde seiner zentralen Rolle klangfüllig beeindruckend gerecht. Aus dem durchweg guten Ensemble der kleineren Rollen fiel der dumpfe alte Melcthal von Christoph Stephinger negativ heraus. Als Sohn Arnold verströmte Bryan Hymel viel klassische Belcanto-Süße, berührte mit feinem Piano und meisterte die x-fachen hohen Hs, Cs und das Cis gut – ohne die heldische Attacke eines Uwe Stickert vor knapp zwei Jahren in der Nürnberger Aufführung zu erreichen.
Michael Volle war ein volltönender, etwas zu cholerisch polternder Tell. Festspielniveau verströmte einmal Marina Rebeka, deren Mathilde mit der Zerrissenheit einer Besatzerin gegenüber dem geliebten Arnold gesanglich anrührte. Dass die rollengerecht „kleine“ Evgenia Sotnikova als Tell-Sohn Jemmy fast das überzeugendste Porträt lieferte und groß gefeiert wurde, sagt viel über das Bühnenteam der Festspielpremiere aus: Durchgefallen!