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Zwischen Wellen, Weltraum und Wüstenlandschaften

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Die Berliner MaerzMusik 2010 suchte nach dem Utopischen
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„Wir können ohne Utopie nicht leben“, erklärte im Jahre 2000 bei der Verleihung des Ernst-Bloch-Preises der Historiker Eric Hobsbawm, der das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Katastrophen beschrieben hatte. Nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus ist in der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus allerdings Pragmatismus gefragt. Visionen haben es schwer. Wieweit sie in der Kunst noch weiterexistieren fragte die diesjährige MaerzMusik, das Festival für aktuelle Musik Berlin, unter dem dialektischen Motto „Utopie [verloren]“. Matthias Osterwold, der künstlerische Leiter, hatte dazu Kompositionen und Produktionen ausgewählt, in welchen politische, technische, spielpraktische und rein musikalische Momente des Utopischen anklingen. Ein lesenswertes Programmheft beleuchtete die ästhetischen und philosophischen Hintergründe.

Vier musiktheatralische Produktionen umrahmten das zehntägige Fest, das wegen Umbauten im eigenen Festspielhaus an verschiedene Spielorte ausgelagert war. Aktuell und realistisch wirkte in den Sophiensälen das szenische Konzert „Der Sonne entgegen“ von Lucia Ronchetti. Mit einem Text Steffi Hensels nahm sie die Zerstörung des Utopischen im Prozess der Globalisierung in den Blick – etwa in der Konfrontation von westlichem Ferntourismus mit der Migration von Afrikanern oder mit Bildern von der Vermüllung des Weltraums. Dabei ließ sie allerdings Bild und Wort derart dominieren, dass für Musikalisches, abgesehen von Verdis „Dies Irae“ im Katastrophenfinale, kaum noch Platz blieb.

Zum Festivalbeginn hatte man in der Volksbühne am Luxemburgplatz in einer von den Salzburger Festspielen 2008 übernommenen Inszenierung Salvatore Sciarrinos Drama „Luci mie traditrici“ (Meine trügerischen Augen) erleben können, das sich noch einmal der Mordtat des Renaissancekomponisten Gesualdo da Venosa widmete; gegenüber den Singstimmen trat dabei das von Beat Furrer geleitete Klangforum Wien in den Hintergrund. Ebenfalls mit dem Klangforum stellte Furrer kurz nach der Baseler Uraufführung sein eigenes „Wüstenbuch“ in der Schaubühne vor. Die Inszenierung Christoph Marthalers reduzierte dabei Ingeborg Bachmanns Expedition in die ägyptische Wüste zu einer „Suche an sich“, zu einem Irrweg, einem Totentanz.

Weniger beeindruckte das neue Stück „Rithaa – ein Jenseitsreigen II“ von Mela Meierhans. Provoziert durch die Minarett-Diskussion in ihrer Heimat würdigte die Schweizerin darin die hohe Bedeutung der Totenklage in der arabischen Welt. Während sie beim Jenseitsreigen I eine alpine Jodeltruppe integriert hatte, bezog sie nun die palästinensische Sängerin Kamilya Jubran ein. Aber trotz der musikalisch überzeugenden Integration unterschiedlicher Traditionen und trotz umfangreicher Video- und Textprojektion wurde es kein Musiktheater, sondern allenfalls ein szenisches Konzert.

Manche Utopien der Vergangenheit sind bis heute uneingelöst geblieben. Nikolai Obuchow, ein russischer Pionier der Zwölftontechnik, hatte seine Heimat nach der Oktoberrevolution verlassen. In Paris vollendete er 1926 sein gigantisches, weit über Skrjabin hinausführendes Hauptwerk „Le Livre de Vie“, das noch nie als Ganzes erklang. Die halbstündige Einleitung brachte nun Roland Kluttig mit dem Konzerthausorchester und drei Vokalsolisten zur eindrücklichen Aufführung. Spieltechnische Aspekte hatte dagegen Thomas Kessler im Blick, als er 2009 sein Orchesterwerk „Utopia“ schuf. Um die vielen Einzelenergien, die in einem Sinfonieorchester stecken, zu „retten“, gab er jedem einzelnen Musiker die Möglichkeit zu live-elektronischer Steuerung – als „eine neue Reise in eine bessere – live-elektronische – Welt“. Wie fast alle Utopien ist auch diese einseitig, denn auch ein Orchesterkollektiv verfügt über eigene Qualitäten. Diese bewies die Staatskapelle Weimar, welche das Werk im Vorjahr uraufgeführt hatte, bei negativen Utopien von Heinz Holliger und Bernd Alois Zimmermann.

Insgesamt 18 Werke, zumeist Auftragsarbeiten, wurden bei dieser Maerz-
Musik uraufgeführt. Drei deutsche Erstaufführungen bot das Arditti Quartett, das überhaupt zum ersten Mal in diesem Rahmen zu hören war. Neben Werken von Aperghis, Ferneyhough, Clarke und Dufourt ließ vor allem Olga Neuwirths 2009 entstandenes Quartett „in the realms of the unreal“ aufhorchen; der ständige Wechsel kontrastierender Texturen machte die Wiedergabe dieser sehr persönlichen Widmungskomposition zu einem spannenden Hörabenteuer.

Frederic Rzewskis 1975 entstandenen Klaviervariationen „The People United Will Never Be Defeated!“ erinnerten trotz der nicht völlig überzeugenden Wiedergabe durch Heather O’Donnell gültig an die Utopie einer Verbindung von Avantgarde und Volkstümlichkeit. Die Altmeister Dieter Schnebel und Klaus Huber boten Neues: der zu seinem 80. Geburtstag gefeierte Schnebel den fast plakativ wirkungsvollen Bachmann-Zyklus „Mild und leise – ultima speranza“ für Stimme und Kammerensemble, der lapidarer Einfachheit aufrauschende Wagner-Zitate gegenüberstellte, der inzwischen 86-jährige Huber eine faszinierende erste Auseinandersetzung mit Live-Elektronik in „Erinnere dich an Golgatha“ für Kontrabass und 18 Instrumente (einer Weiterführung von „Erinnere dich an G.“ von 1977).

Im Vergleich dazu muteten die Werke der jüngsten Generation, welche das Stuttgarter Ensemble ascolta in der Sophienkirche zur Uraufführung brachte, eher belanglos an. Die Chinesin Meng-Chia Lin, eine Schülerin von Johannes Schöllhorn, bezog sich in „Tulisan II“ auf das Schreiben in indonesischer Sprache, einen Essay von Roland Barthes sowie auf die Zeichnung „Wanderer inmitten von Bergen und Bächen“. Erkennbar war immerhin eine stufenweise Entwicklung von harten Schnitten zu größerer Kontinuität und Einfachheit. Ganz und gar hermetisch blieb dagegen der Furrer-Schüler Eduardo Moguillansky in seiner überwiegend geräuschhaften Komposition „121“ für sieben Spieler. „Ein alter Mann wird durch die Verschüttung eines Milchglases auf das schüttere Haar seiner Frau aufmerksam. Er ist darüber so erschüttert, dass er die Erschütterung nicht bemerkt.“ Solche wunderlichen Sprachspiele legte Saskia Bladt, eine Schülerin Isabel Mundrys, ihrer ganz im Leisen verharrenden, weniger überzeugenden Ensemblekomposition „V erschütt er ung“ zugrunde.

Michael Pisaros Klangkomposition „A wave and waves“, welche im neuen „Wellenfeld“ der Technischen Universität 100 Perkussionsinstrumente auf 100 Kanälen präsentierte, wirkte wie eine technische Spielerei. Das hier nachgeahmte Meeresrauschen ist in Wirklichkeit viel eindrücklicher als das künstliche Surrogat. Wenn sich auch manche Klangexpeditionen als „Schlag ins Wasser“ erwiesen und andere im Sande verliefen oder in der Wüste endeten (auch Barbara Monk Feldmans überlanges Quartett „desert scape“), so gelang es den Festivalmachern doch, ein breites Publikum und sogar die schulische Jugend an dieser Suche nach dem Utopischen zu beteiligen.

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