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„Wir wollen den Frühling“ - © Odelia Tode
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Zwischenstation Neue Wege – Eine musiktheatrale Suche aus Neukölln

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„Beim nächsten Mal besteigen wir den Berg“, hieß es im ersten Teil von „MOON MUSIC“ der im Januar aus den Räumlichkeiten der Neuköllner Oper gestreamt wurde. Nach dem „Abschied“ folgte im Februar nun die „Transformation“: die Produktion begab sich auf die Straßen von Neukölln. Das STEGREIF.orchester – diesmal mit Sopranistin Marine Madelin an der Seite – startete in diesem Zwischenstück des als „Musikalische Metamophose“ betitelten Dreiteilers in der Regie von Selina Thüring seinen Weg in der lokal bekannten Rixdorfer Passage an der Karl-Marx-Straße und wanderte bis in die Kiezkapelle auf dem St. Jacobi-Friedhof. Das Publikum konnte erneut über Zoom an der teils vorproduzierten, teils live übertragenen Vorstellung teilhaben.

Es ist Tauwetter in Berlin. Auf den zeitweise geradezu weihnachtlich weißen Januar folgt ein sonniger vereinzelt fast sommerlicher Februar. Die ersten treibt es auf die Straßen, wo sie mit etwas Glück auf eine Vierergruppe treffen, die vor dem (freilich lockdownbedingt geschlossenen) Passage-Kino an der Karl-Marx-Straße in knallbunten Skianzügen und mit Plastikhaube auf dem Kopf musizieren. Ins Schlagzeug versunken gibt Antonio Rivero den smoothen und doch enthusiastisch lodernden Groove zu „Nützliche Katastrophen“ der Punk-Band Die Goldenen Zitronen. Einige der zufälligen Zuschauer halten inne; die meisten würdigen das Geschehen nur eines kurzen Blicks der einvernehmlichen Kenntnisnahme und gehen weiter. Dem aus diesem Straßenauftritt für die Zoom-Aufführung von „Moon Music“ produzierten Videoabschnitt mangelt es an guter Tonqualität. Als sträube sich was real sein will, im Virtuellen gut abgebildet zu werden, zumal dieses ‚gut‘ sowieso nur bedeuten würde: gut getäuscht. Oder wie man zu sagen pflegt: täuschend echt. Und das möchte gutes Theater schließlich nicht sein.

„Und es wird daselbst eine Bahn sein und ein Weg, welcher der heilige Weg heißen wird.“
– Jesaja 35,8

„Losgelassen habt ihr schon, nun verwandelt euch“, erschallen die Worte des vielgestaltigen Textes von Dramaturgin Änne-Marthe Kühn. Beim letzten Mal wurde das Publikum dazu aufgefordert, im Chat zu äußern, was es gerne loslassen würde. Diese Wünsche, symbolisch als Leuchtkugeln, hieven die Musiker des Stegreiforchesters nun per Schubkarre durch Straßen und Grünanlagen gen Kiezkapelle. Da heißt es schon mal bissig: „Es sind nicht mal meine Lasten!“ Ein beschwerlicher Weg durchzogen von ständiger Stagnation, ein ständiges Warten, wie die Zeit des Lockdowns. Ständig eingefroren gleich den letzten Stellen Schnee, die das Licht der Sonne noch nicht geschmolzen hat, wirkt die Szenerie der sich durch die Trübseligkeit Plagenden: „Ich kann nicht mehr, wer weiß ob wir je ankommen.“

Wenn sie rasten, kauern die Akteure auf ausgelegten Matratzen; ein vergeblicher Versuch den Schmerz zu lindern, der sich wie der Prinzessin die Erbse ins Mark bohrt. „Wer sind wir eigentlich, dass wir da Matratzen aufschichten?“, fragt Konstantin Döber aus dem Voiceover in seinem eigens erarbeiteten Monolog, während er mit Prinzessinnenkrone auf dem Kopf stockende und doch strebende Figuren imposanter Ausrufe aus seiner Trompete kämpft. Wie ein Alleingelassener sitzt er da; einer der seine „Erbse“ – den Grund seines Schmerzes – wenn schon nicht beseitigen, so doch zumindest besser kennenlernen möchte, verstehen möchte; einer der sich verloren fühlt in einer Welt, in der Kunstschaffende zunehmend überflüssig scheinen und zum Ballast der Gesellschaft verkümmern: „Wir könnten nicht nur die Erbsen, sondern auch uns unter den Matratzen vergraben.“

„...die ihr auf edlen Stoffen sitzet und die ihr auf dem Wege gehet: singet!“
– Richter 5,10

Doch vorsichtig tasten sich gleißende Strahlen heran, halten Menschlichkeit am Leben, bahnen sich ihren Weg. Immer da gewesen und doch so fragil in jedem Augenblick ist es die Musik, die das Geschehen begleitet, die doch das Vorankommen erst ermöglicht, die doch der Prozess selbst ist. Behutsam streicht Bertram Burkert immer wieder Debussys „Clair de lune“ auf der Gitarre. Als Licht in der Tristesse funkelt die bescheidene Weise zart und doch so klar, verleiht Orientierung in der Düsternis und erinnert an Ziel und Zweck; erinnert an die Sache, in die man doch all seine Wünsche gelegt hat und die doch nicht zu voll davon werden kann; die Sache, die doch größer ist als Einzelne und Einzelnes, die doch immer da sein wird, auch wenn man sie aus den Augen verloren hat: „Die Mondin war schon immer da.“

Doch auch Reflexion und Verarbeitung weiß die Musik zu leisten: In einer Zwischensequenz stimmt Marine Madelin Schubert an – „Der Wegweiser“ tönt aus abgelegenem Kämmerlein bestimmt aber doch sublim, verletzlich, aber doch heilsam. Ganz anders und doch ebenso weltvergessen melancholisch schimmert „Tonada de luna llena“ – das venezolanische Lied des Vollmonds von Simón Díaz: „Der Mond blickt mich an / Ich weiß nicht was er in mir sieht“; anachron verflechtet sich der spanische Liedtext mit dem Gesprochenen: „Vielleicht sehen wir was die Mondin sieht“. Doch nichts bringt die Intimität des Momentes näher als die Worte, die ein Zuschauer von gefühlvoller Mitgerissenheit gepackt über den Chat zu äußern gedrängt ist: „My venezuelanian heart is happy hearing this song, thanks“.

„...siehe ich treibe Dämonen aus, und vollbringe Heilungen heute und morgen und am dritten bin ich am Ziel.“
– Lukas 13,32

Der Weg neigt sich dem Ende entlang der Hermannstraße: „Wake / From your dream“, erklingen verheißungsvoll schon die ersten Worte aus „Exit Music (for a Film)“ von Radiohead. Die letzten Schritte verzerrt sich der Gang der Dinge ein abschließendes erbittertes Mal, doch: „Today / We escape / We escape“. Nur noch ankommen, „Before / All hell / Breaks loose“; spannungsgeladen wie ein grenzüberschreitendes Luftringen – zeitlupenartig wie ein vorwärtssichwendender Moonwalk: „Breathe / Keep breathing / Don't loose / Your nerve“, auflösen; Entropie; zusammenhalten, „Breathe / Keep breathing / I can't do this / Alone“, gemeinsam – mit den Wünschen der Anderen: „Sing / Us a song / A song to keep / Us warm“, unter dem kalten Himmel durch die mondlose Nacht gegen den schwarzen Spiegel. Alles weist in ein Drittes. Durch die Ruhestätte des Friedhofs in die Stille: „Now / We are one / In everlasting peace“.

Beim Eintritt in die Kiezkapelle folgt dem Wechsel in die Liveübertragung bald auch die Aufforderung zur Interaktion. „Ihr seid Helden geworden, eure Wunden sind nur noch Narben; ihr seid bereit, die Weihe in der Kapelle zu erhalten“. Durch Hauben und Schutzmasken mischen sich die Stimmen der Vier zu zeremonieller Vorbereitung im atonalen Choral. Durch alles Geschehen stets wiedergekehrt steht nun die große Frage aus erster Zeit unausweichlich im Raum: „Da gibt es diesen König in der Stadt, brauchen wir ihn nun oder nicht?“ Erinnerungsfetzen stäuben umher: „Und die Narren springen auf: Welchen Weg wollt ihr gehen?“ Gedanken blitzen jenseitig auf: „Kann sich der König vom Alten losmachen?“ ... „König sein heißt auch festhalten.“ Vereinzelte Besinnungen brechen hervor: „Wieso soll der König gerettet werden?“ – „Lasst ihn gehen den König, den Esel!“ Frühere Verhandlungen dringen zurück: „Was hat er je für mich getan?“ – „Den Sommer“ – „Der kommt auch ohne ihn“ – „Das weißt du nicht“. Ein nebulöser Schleier aus Zwist und Ungewissheit liegt in der Luft. Hindurch brennt sich das eine Ziel: „Wir wollen den Frühling!“

„Danach wird das Gericht gehalten werden; dann wird ihm seine Macht genommen und ganz und gar vernichtet werden.“
– Daniel 7,22

Sanftmütig breiten sich die Klänge von Thom Yorkes „Atoms for Peace“ über die Wachträume aus. Zu den verspielt-meditativen Beats wird das Publikum aufgefordert im Livechat über Leben und Tod des Königs abzustimmen: „No more talk about the old days / It's time for something great“, schmiegt sich der Gesang beruhigend an und ganz ohne dabei laut zu werden dringlicher: „Want you to get out and make it work“. Ganz ohne Sturm auf einen Palast, ganz stumm nur über Chat wird das Urteil gesprochen. An der Tatsache ändern auch einzelne vehemente Einsprüche Mitfiebernder im Chat nichts: „Nicht sterben!“ Das Ableben des Königs ist besiegelt. Der Choral von vorher erneut angestimmt gewinnt nun Struktur und die sakral-schwebende Erhabenheit von Poulencs „O Magnum Mysterium“ schält sich heraus.

Der Bann ist gebrochen; gleich dem Loslassen im Januar-Teil wird nun das Publikum gefragt, was es zu transformieren wünscht, denn: „Wir sind es, die heilen sollen.“ Im Chat wird schnell deutlich: Viele möchten aus dem Gefühlskomplex von Angst, Unsicherheit und Rastlosigkeit gerne Liebe, Vertrauen und Gelassenheit schaffen. Die Abhängigkeiten vom Denken anderer oder Perfektionismus sollen in Selbstbestimmtheit und Kreativität gewandelt werden, Verzweiflung zu Fantasie und Visionen zu Wahrheit. Grenzen wollen eingerissen werden, wo Binarität zu Kontinuum und Entweder/Oder zu Sowohl als auch wird. Die Suche nach Halt spricht daraus, dass Sehnsucht in Heimat, Fragen in Ahnungen und Ferne in Hoffnung übersetzt werden möchte. Und ja, auch Zweifel zu Glaube! „Wir haben uns also verwandelt auf dem Weg, aber wir sind keine Helden geworden, sondern Narren – oder geblieben“. Akustisch umrankt diesen Austausch eine Pracht frei improvisatorischer Gestaltung, in der sich Schlagwerker Antonio Rivero nochmals vollends austobt.

„Ihr seid geheilt, ein bisschen – jetzt könnt ihr andere heilen, ein bisschen.“  Noch ist nicht vollends geklärt, was für Folgen die Transformation haben wird: „Den Vogel haben wir vorbeifliegen sehen, aber wir wissen noch nicht.“ Die abschließende Phase von „Moon Music“ wird den „Neubeginn“ bringen.

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