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Beflügelte Klangphantasie: Streicherkammermusik von Sofia Gubaidulina in verschiedenen Neueinspielungen

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Wie der Zufall es will, erscheinen im Jahr nach dem achtzigsten Geburtstag Sofia Gubaidulinas gleich drei Neuproduktionen von einigen ihrer wichtigsten Werke für kleine Besetzungen. Zu diesen ist ihr persönlicher Bezug vielleicht am stärksten, hat sie doch mit ihrem improvisierenden Trio Astreja intensiv die Potentiale insbesondere folkloristischer Instrumente erforscht.

Die Hervorbringung von Musik vor und jenseits der Schriftform, nur durch das Aushören der konkreten Klänge, verbindet sie mit einem Außenseiter wie Giacinto Scelsi, allerdings mit dem feinen Unterschied, dass es ihr nicht einfallen würde, ihre Improvisationen von Tonbändern transkribieren zu lassen, um sie hernach als Kompositionen herauszugeben.

Dennoch wirken ihre komponierten Stücke nicht selten so, als wären sie mit einem pfeilschnell über das Notenpapier huschenden Stift improvisiert; dann spiegeln sie eine tastende und zwischendurch auf Abwege geratende Suche wider, die nicht unbedingt auf ein konkretes Ziel zuzusteuern scheint: Der einsätzigen, dem Hörer nicht auf Anhieb einleuchtenden Ausdehnung von Stücken wie „Et exspecto“ (18 Min.) oder „Pentimento“ (24 Min.) würde man gerne eine streng gehandhabte Sonatensatzform verordnen. (Falls, wie in der „Sonata“ für Kontrabass und Klavier, in ihrem Oeuvre tatsächlich einmal diese Gattungsbezeichnung auftaucht, ist sie ganz frühbarock als „Klangstück“ gemeint.)

Sofia Gubaidulina liebt die Aura der Soloinstrumente und Einzelstimmen, die mit rein akustischen Mitteln subtil, aber obsessiv auf die spirituelle Sphäre verweist, in der objektive Dauern keine Rolle spielen. Kein Wunder, dass sie dem Theater wenig abgewinnen kann: Das zeitgenössische Repertoire hat sie auf höchstem Niveau um Konzertantes, vor allem für Geige, Cello und Schlagwerk, ja sogar um Oratorisches bereichert, doch von der Oper hat sie die Finger gelassen. Andererseits hat die schwer an ihrem eigenen Anspruch absoluter Musik tragende Gattung Streichquartett, zu der sie in einem Zeitraum von dreißig Jahren fünf Beiträge unterschiedlicher Gewichtigkeit lieferte, sie nicht durchweg inspirieren können. Das Stamic-Quartett gibt dennoch sein Bestes, damit die erste Kompletteinspielung dieser Werkgruppe über weite Strecken zum Ereignis wird.

Das gute alte Pianoforte wiederum wirkt bei seinen sporadischen Einsätzen im Rahmen ihrer Kammermusik („Quasi Hoquetus“) eher wie ein Spielverderber und Störenfried. Sobald jedoch unverbrauchte Instrumente und deren vielfältige Kombinationen die Schallereignisse liefern dürfen, fühlt sich Gubaidulina ganz in ihrem Element: Harfe, Kontrabass und Perkussion (die „5 Etüden“ von 1965, in denen auch mal jazzig geswingt werden darf); Bajan, Violine und Kontrabass („Silenzio“); Kontrabass und drei Gitarren („Pentimento“). Die konzis auf wenige Gesten konzentrierten Stationen innerhalb eines Zyklus‘ schließlich bringen das Beste in ihr hervor und beflügeln ihre Klangphantasie – sei es nun ein auf den zehn Präludien für Solocello basierender Etüdenzyklus für Kontrabass allein, seien es die einen unerwarteten Sinn für Humor verratenden „Galgenlieder“ für Mezzosopran, Bass und Perkussion nach Gedichten von Christian Morgenstern oder die hochdramatischen „Sieben Worte“ für klassisches Akkordeon, Cello und Streicher.

Bei letzterem, rein instrumental gehaltenem Zyklus – zweifelsohne eines ihrer Hauptwerke – gesellt sich wie bei vielen ihrer stärksten Partituren ganz offen eine religiöse Komponente hinzu. Die erschütternde Wirkung des gleichfalls zu dieser Gruppe zählenden Duos „In croce“ wird dabei keineswegs dadurch geschmälert, dass es wahlweise auf Cello und Kirchenorgel, Cello und klassischem Akkordeon oder Kontrabass und Bajan realisiert werden darf.

Mit dem 3-CD-Set auf NEOS dürfte sich Martin Heinze unter die weltweit führenden Vertreter seines immer noch stiefmütterlich behandelten Tieftöners positioniert haben; dennoch hätte es den Wert der Veröffentlichung nochmals gesteigert, wenn die Plattenfirma Gesangstexte und Werkbeschreibungen mitgeliefert oder doch zumindest deren Fundstelle im Netz angegeben hätte.

Diskographische Hinweise:
Sofia Gubaidulina: Sämtliche Streichquartette; Stamic Quartet. Supraphon SU 4078-2

Sieben Worte, In croce, Kadenza, Et exspecto; Inaki Alberdi, Akkordeon; Asier Polo, Violoncello; Baskisches Nationalorchester, Ltg.: José Ramón Encinar. Et’Cetera KTC 1433

Kammermusik mit Kontrabass: 5 Etüden, Pantomime, 8 Etüden, Sonata, In croce, Quasi hoquetus, Silenzio, Ein Engel, Galgenlieder à 3, Pentimento; Martin Heinze, Kontrabass und das Ensemble KlangArt Berlin; dazu als Gäste: Elsie Bedleem, Harfe; Elsbeth Moser, Bajan; Lisa Marie Landgraf, Violine; Ulrich Knörzer, Viola; Vanessa Barkowski, Mezzosopran; Gitarrenensemble Quasi Fantasia. NEOS 11106-08

Vertrieb aller CDs: Codaex Deutschland

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