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Akustische Reise in eine Metropole

Untertitel
Paris als faszinierendes Geistesbiotop des 19. Jahrhunderts
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Im Oktober 1821 bricht der 17-jährige Hector Berlioz aus seinem Geburtsort La Côte-Saint-André bei Lyon zum Medizinstudium nach Paris auf. Vier Tage und Nächte in der Postkutsche dauerte dies. 46 Jahre später, am 11. September 1867, reist der Komponist aus Vienne südlich von Lyon in die Hauptstadt. Mit dem Nachtzug PLM dauert dies nur noch elf Stunden. Das sind die beiden Fixpunkte für Volker Hagedorns Buch „Der Klang von Paris“, ein knappes halbes Jahrhundert voller musikalischer Ereignisse in der Metropole an der Seine. Kein anderer Ort auf der Welt, ausgenommen allenfalls Wien, hatte in jener Zeit ein derart dichtes Musikleben.

Volker Hagedorn ist freischaffender Journalist und Bratscher. 2017 hat er mit „Bachs Welt. Die Familiengeschichte eines Genies“ für Aufsehen gesorgt. Nun hat er mit „Der Klang von Paris“ nach recht kurzer Zeit ein rechercheintensives zweites großes Musikbuch nachgelegt. Mit welchem Genre haben wir es zu tun? Einem historischen Roman? Einer ins Fiktive verschobenen Biografie wie Peter Härtlings Bücher über Hölderlin, Schumann, Schubert? Einem populären Musikbuch? Nichts passt so richtig. Vielleicht hat der Autor ja eine neue Gattung geschaffen.

Das Buch beschreibt viel und erfindet wenig. Eine ungeheuer aufwendige Recherche steht dahinter. Der Autor hat die noch erhaltenen Schauplätze besucht, eine beeindruckende Literaturliste gewälzt, darunter auch Zeitungen von damals. Man kann sicher sein, dass Zahlen, Daten, Fakten stimmen bis hin zu den Abfahrtszeiten der Züge oder den Trinksprüchen. Was der Darstellung in sechs großen Kapiteln, die einzelne Zeitspannen zum Inhalt haben, die Würze gibt, sind hinzuerfundene Dialoge, die aber nie ins Unwahrscheinliche abdriften.

Paris 1821 bis 1867, das ist ein faszinierendes Geistesbiotop, an dem die Musik ihren satten Anteil hat. Kein französischer Komponist, der in der Provinz geblieben wäre – ohne Paris keine Karriere. Aber es waren nicht nur die Franzosen wie Alkan, Auber, Berlioz, Bizet, Gounod, Halévy, die das vitale Musikleben prägten, sondern mindestens in gleichem Maße die Ausländer: Chopin, Liszt, Meyerbeer, Offenbach, Paganini, Rossini oder Wagner.

Musik war Tagesgespräch unter den wenigen, aber maßgeblichen Parisern. Balzac schätzte, dass „Tout-Paris“ Ende der 20er-Jahre nur 2.000 (natürlich männliche) Personen unter den 800.000 Einwohnern umfasste. Doch das gehobene Bürgertum, für das Opern- und Konzertbesuche obligatorische Freizeitbeschäftigung war, nahm zu, so dass Erfolgswerke wie Gounods „Faust“ und Meyerbeers „Huguenots“ innerhalb weniger Jahre hunderte Male aufgeführt wurden.

Die großen Uraufführungen haben verständlicherweise Ehrenplätze in dem Buch. Berlioz’ „Symphonie fantastique“ 1830 zum Beispiel oder Meyerbeers „Le prophète“ 1849, natürlich auch die legendäre Pariser Erstaufführung von Wagners „Tannhäuser“ 1861, hysteriebeladen alle drei. Oder eine ganz neue Musiktheaterform: Offenbachs „Orphée aux enfers“ 1858, von der Kritik reserviert aufgenommen, vom Publikum geliebt: 227 Aufführungen in der ersten Saison! Eine Männerwelt – sicher. Aber es gab durchaus auch Frauen, die ihre Spuren in der Pariser Musikgeschichte hinterließen: George Sand etwa, Chopins Geliebte und Verfasserin von Musikkritiken, oder die gefeierte Sängerin Pauline Viardot, die am 18. November 1859 unter Berlioz’ Leitung als erste Frau die Rolle des Orphée in Glucks Oper sang.
Dass all dies nur ein Teil der Lebenswirklichkeit jener Zeit war, das weiß Hagedorn auch: Die Beschreibung der Revolutionen von 1830 und 1848, der Armut und des sozialen Elends, der Cholera von 1832 mit 18.000 Toten, der brachialen Stadterweiterung durch den Baron Haussmann erden die nacherzählte Musikgeschichte. Die Darstellung der 46 faszinierenden Jahre ergeben ein faktenreiches Lesevergnügen mit Mehrwert. Keine trockene Musikwissenschaft ist dies, sondern gelungene Vermittlung.

  • Volker Hagedorn: Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts, Rowohlt, Reinbek 2019, 410 S., € 25,00, ISBN:  978-3-498-03035-3

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